Heiligkeit und Autorität
Handschriften der Hebräischen Bibel: Codex und Torarolle
Irina Wandrey und Michael Kohs
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SUB Hamburg
Diese beiden hier gezeigten Schriftartefakte – eine zum Gebrauch im Gottesdienst bestimmte Torarolle und ein Kodex – enthalten jeweils den im Judentum wohl wichtigsten Teil der hebräischen Bibel: die fünf Bücher Mose. Gemäß der jüdischen Tradition wurde die Tora Moses am Berg Sinai von Gott übergeben.
Im Mittelalter wurde in die jüdische Manuskriptkultur ein vorher noch nicht verwendeter Typ von Schriftartefakt eingeführt: Kodizes, also gebundene Bücher. Vor dieser Zeit wurden die Bibel und andere Schriften und Texte in Schriftrollen niedergeschrieben und verwendet, ähnlich der hier gezeigten Torarolle. Kodizes mit dem Text der hebräischen Bibel kamen erstmals im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung im Mittelmeerraum und im Nahen Osten auf. Eine wichtige Neuerung in diesen Kodizes war die Integration der sogenannten Masora in den Text, der zuvor nur aus Konsonanten bestand. Die Masora umfasst Vokalisierungszeichen (nikkud), Kantillationszeichen (te'amim) und eine Art „kritischen Apparat“: Die sogenannte kleine Masora (masora ketana) liefert dem Leser statistische Informationen wie Worthäufigkeiten und grammatisch-sprachliche Angaben zu bestimmten Wörtern oder Textabschnitten. In der großen Masora (masora gedola) werden dann Parallel- und Belegstellen zu den in der kleinen Masora behandelten Wörtern aufgelistet.
Die Masora diente unter anderem dazu, den Text vor Veränderungen und Verfälschungen zu schützen, denn insbesondere die Aussprache des bis dahin nur als Konsonanten überlieferten Textes der Hebräischen Bibel war anfällig für sich allmählich einschleichende Änderungen.

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Cod. hebr. 4 stammt aus dem 14. Jahrhundert und wurde im aschkenasischen, also mitteleuropäischen Raum hergestellt. Aufgeschlagen ist der Beginn des zweiten Buches Mose, hebräisch Shemot ‚Namen‘, Lateinisch Exodus ‚Auszug [aus Ägypten]‘. Anders als in lateinischen Handschriften des Mittelalters wird in hebräischen Manuskripten dieser Zeit der Beginn eines Textes oder eines neuen Abschnittes nicht durch einen großen Initialbuchstaben, sondern durch ein größer geschriebenes Initialwort gekennzeichnet. Eine weitere Besonderheit jüdischer Manuskripte kann die Einbettung des Initialwortes in ein mikrographisches Rahmenbild sein. Dieses Bild besteht aus sehr kleiner Schrift, die dann zu ornamentalen Mustern oder figürlichen Darstellungen geformt wird. Bei dem hier als Mikrographie ausgeführten Text handelt es sich um eine masoretische Zusammenstellung von Bibelversen aus dem näheren Umfeld dieser Seite (also dem Ende von Genesis und des Beginns von Exodus) und sehr ähnlichen oder sogar identischen Parallelversen aus anderen Abschnitten der Bibel.

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Neben dem eigentlichen Bibeltext in hebräischer Sprache enthält das Manuskript weitere Texte. So folgt hinter jedem hebräischen Vers eine aramäische Übersetzung (Targum) des Verses, ebenfalls in hebräischer Schrift geschrieben. Seinen Ursprung hat der Targum in der Antike, als Hebräisch als Umgangssprache durch das Aramäische, einer dem Hebräischen verwandten Sprache, ersetzt wurde. Auch wenn Aramäisch für Juden im Mittelalter längst keine Umgangssprache mehr war, hielt man an der Tradition fest, beim Studium der Bibel (und teilweise auch im Gottesdienst) neben dem hebräischen auch den aramäischen Text zu lesen und zu studieren.
Im dreispaltigen Text sind deutlich erkennbar die Vokalisierungs- und Kantillationszeichen eingefügt. Sie wurden nach dem Schreiben des Haupttextes in einem weiteren Arbeitsgang ergänzt, nicht selten von einem anderen Schreiber als dem Schreiber des Bibeltextes. Am rechten und linken Rand der Spalten findet sich die kleine Masora, am oberen und unteren Seitenrand die große Masora.
Kodizes wie der hier gezeigte wurden für das Textstudium genutzt und dienten gleichzeitig auch als repräsentatives Statussymbol. Für die Lesung aus der Tora, den fünf Büchern Mose. Im jüdischen Gottesdienst darf jedoch kein Kodex, sondern nur eine Torarolle, das Sefer Tora, verwendet werden. Bis heute muss eine Torarolle, die im jüdischen Gottesdienst verwendet wird, handgeschrieben sein.

Die Torarolle Cod. hebr. 376 stammt wahrscheinlich aus dem 17. oder 18. Jahrhundert und ebenfalls aus dem aschkenasischen Raum. Vollständige Torarollen aus dem Mittelalter oder noch früherer Zeit (etwa unter den antiken Schriftrollen vom Toten Meer) sind nur in geringer Zahl erhalten. Wie beim gezeigten Kodex ist der Beginn des Buches Exodus ausgewählt. Deutlich fällt die sich vom Kodex unterscheidende visuelle Gestaltung des Textes in der Torarolle auf. Der Bibeltext ist hier unvokalisiert, das heißt, die Vokal- und Kantillationszeichen fehlen, wie auch jemand, der nicht mit der hebräischen Schrift vertraut ist, im direkten Vergleich mit dem Kodex feststellen kann. Wer im Gottesdienst aus der Tora vorträgt, hat den Text und seine Melodie also bereits vorher gründlich einstudiert. Der Text der Tora ist in 54 Abschnitte, parashot, unterteilt. Pro Woche wird ein kompletter Abschnitt im Gottesdienst gelesen, so dass die Lesung der ganzen Tora nach einem Jahr abgeschlossen ist und wieder von vorn beginnt. Der Abschluss des jährlichen Torazyklus wird mit dem Fest Simchat-Tora, ‚Freude der Tora’, gefeiert, das direkt im Anschluss an das Laubhüttenfest Sukkot stattfindet und in den September oder frühen Oktober fällt.
Für die Herstellung der Rolle und das Schreiben des Textes gelten besondere Vorschriften. So muss etwa das Pergament für die Torarolle von koscheren Tieren stammen und auf bestimmte Weise hergestellt werden. Der Text wird von einem speziell ausgebildeten Schreiber geschrieben, dem Sofer STaM. Das Akronym STaM steht für Sifre Tora, Tefillin und Mezuzot. Die Tefillin genannten Gebetsriemen werden von männlichen Juden beim Morgengebet getragen und enthalten Pergamentzettelchen mit handgeschriebenen Versen aus der Tora (Ex 13,1–10; 11–16; Deuteronomium 6,4–9; 11,13–21). Auch die Mesusa, eine am Türpfosten befestigte Kapsel, enthält ein üblicherweise handgeschriebenes Pergamentzettelchen mit Abschnitten aus dem 5. Buch Mose (Dtn 6,4–9 und 11,13–21).

British Library
In Torarollen, wie auch in Tefillin und Mezuzot, wird weitgehend auf dekorative Elemente verzichtet. So enthalten sie etwa niemals Illustrationen oder durch Farbe hervorgehobenen Text. Jedoch werden bestimmte Buchstaben an ihrer oberen Seite mit einem beziehungsweise drei kleinen Strichen versehen, den Tagin ‚Kronen‘. Diese sind ein sehr charakteristisches Element der drei genannten Manuskripttypen aus dem rituellen Kontext. Um eine einheitliche Zeilenlänge in den Spalten zu erreichen, können zudem einzelne Buchstaben in ihrer horizontalen Länge gedehnt werden. Diese Eigenheit der visuellen Gestaltung findet sich in gleicher Weise auch in hebräischen Kodizes.
Die Torarolle, die in einem besonderen Schrank in der Synagoge aufbewahrt und im Gottesdienst verwendet wird, ist ein rituelles Objekt, dem hohe Ehrerbietung entgegengebracht wird. Dies zeigt sich in der Herstellung, im Gebrauch und auch zu dem Zeitpunkt, an dem sie wegen Abnutzung oder Beschädigung ihre Funktion nicht mehr erfüllen kann und rituell bestattet werden soll. Die in ihr enthaltene Schrift, die ein Abbild der ursprünglichen von Gott an Mose gegebenen Schrift darstellt, ist heilig. Ein Kodex mit demselben Text erfüllt andere Funktionen und genießt nicht denselben Status. Er wurde als das modernere und leichter nutzbare – und daher für Studium und Lesen außerhalb der Synagoge geeignete – Manuskriptformat betrachtet. Außerdem erfüllt er eine quasi-philologische Funktion.
Signaturen
Torarolle (Beginn Exodus)
Cod. hebr. 376 (olim Lichtenstein Nr. 38)
17./18. Jh. (?)
Gesamtlänge: 29,90 m
Höhe: leicht wechselnd, zwischen 0,60–0,62 m
52 aneinandergenähte Pergamentbögen wechselnder Länge, zwischen 0,55–0,60 m breit.
Pentateuch mit den fünf Megillot (Beginn Exodus, S. 93 u. 94)
Cod. hebr. 4
14. Jh.
Pergament
Höhe 34,5cm
Breite 24 cm
519 paginierte Seiten