Die Palmblattmanuskripte von Tamil Nadu
Der älteste Text in einer indischen Sprache und eine monumentale Grammatik
Eva Wilden
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Das Manuskript Cod. Palmbl. I 1 aus Tamil Nadu enthält einen Text in Sanskrit, der altindischen kosmopolitischen Literatur- und Gelehrtensprache. Geschrieben ist es auf den Blättern einer Palmyrapalme. Es enthält die ersten vier aṣṭakas (RV 1.1-6.61) der Rigveda Saṃhitā. Der Rigveda ist der älteste überlieferte Text in einer indischen Sprache. Das genaue Alter ist unbekannt, aber das allgemein akzeptierte „Konvenienzdatum“ ist um 1200 v. Chr.
Der Rigveda ist eine Sammlung von oralen Kompositionen, die auf eine Reihe von bardischen Priesterfamilien zurückgehen. Diese Hymnen in zehn Liedkreisen richten sich an verschiedene Gottheiten, die in der vedischen Religion verehrt wurden, dem Vorläufer des Hinduismus. Ihre Sprache ist eine archaische Form von Sanskrit. Für mehr als ein Jahrtausend wurden Texte vor allem mündlich von Lehrer zu Schüler überliefert, oft von Vater zu Sohn. Schulen entwickelten ausgefeilte mnemotechnische Formen der Weitergabe, um die fehlerfreie Überlieferung zu gewährleisten. Da der Veda auch im modernen Hinduismus immer noch als heiliger Text gilt und in einigen Rituale, zum Beispiel bei der Eheschließung, immer noch Gebrauch von rigvedischen Hymnen gemacht wird, gibt es noch vedische Schulen, die den Text oder signifikante Teiledavon zu rezitieren lehren, obwohl es seit etwa dem 5. Jahrhundert v. Chr. auch Zeugnisse von Schrift auf dem Subkontinent gibt. Ein Indiz für die andauernde Emphase auf der mündlichen Überlieferung sind auch die Akzente, relevant für die Rezitation, die im vorliegenden Manuskript zu sehen sind. Die hier benutzte Schrift ist nicht das im Süden übliche Grantha, sondern Nandinagarī, eine der nordinidischen Schriften.
Die in der Ausstellung aufgeschlagene erste Hymne richtet sich an Agni, den Feuergott, dessen Aufgabe es ist, die ins Feuer gegebenen Opfergaben wie Milch und Butteröl zu den Göttern im Himmel zu bringen.
Das Papiermanuskript Cod. orient. 283 aus dem 17. Jahrhundert, ex libris Zacharias Conrad von Uffenbach (1683–1734), befindet sich seit 1734 in Hamburg. Das Papier ist handgemacht und in Leder gebunden. Die Handschrift – in schwarzer Tinte – ist sehr elegant.
Auf der Titelseite findet sich eine lateinische Überschrift: „Arte Tamul Siue Institutio Grammatica Lingæ Malabaricæ“. Der Name des Autors (Philippi Baldæj) erscheint ebenso in Latein wie Ortsname und Datum (Jaffnapatam, das heißt Jaffna, 1659), zusammen mit einer Umschrift in Tamil (பிலிப்பி பல்தெயுசு [Pilippi Palteyucu]) aber mit einem abweichenden Datum (1665).
Philippus Baldæus (1632−1672), ein protestantischer Missionar aus den Niederlanden, war bei der niederländischen Ostindienkompanie angestellt, um die tamilischen Gemeinschaften in Nordceylon zu bekehren. Es lebt fast zehn Jahre lang in Jaffna und besuchte auch Südindien. 1666 ging er zurück in die Niederlande und veröffentlichte in niederländischer Sprache einemonumentale Beschreibung von Südindien und Ceylon (Naauwkeurige Beschrijvinge van Malabar en Choromandel, Amsterdam, 1672). Das Werk wurde noch im selben Jahr ins Deutsche und 1703 auch ins Englische übersetzt. Die englische Ausgabe enthält einen Anhang mit dem Titel „Introduction to the Malabar Language“. Auch andere Werke von Baldæus über die malabarische Sprache sind bekannt. Gewöhnlich wird die südwestliche Küstenregion von Indien als „malabarisch“ bezeichnet, aber tatsächlich beschreibt Baldæus das Tamilische, welches an der nordwestlichen Küste gesprochen wurde und noch heute gesprochen wird.
Das vorliegende Manuskript scheint ein Autograph von Baldæus mit verschiedenen Werken über Tamil zu sein, die während seiner Zeit in Ceylon verfasst wurden. Die Sprache der Beschreibung ist Portugiesisch; dies überrascht nicht, da Baldæus möglicherweise einen portugiesisch sprechenden Tamil-Dolmetscher hatte und zudem die von früheren portugisischen Missionaren verfasste Grammatiken benutzte. Einen von ihnen nennt er in diesem Manuskript beim Namen, nämlich Gaspar Aguilar. Kürzlich sind Zweifel an der Autorschaft Baldaeus‘ laut geworden, der das Werk von d’Aguilar für seine Zwecke möglicherweise lediglich umgeschrieben hat.
Das Manuskript enthält 75 Folios; jedes misst ungefähr 18 × 21 cm. Einige Blätter zu Beginn und am Ende sind nicht nummeriert. Abgedeckt werden die tamilische Schrift, Deklinationen und das Verbalsystem. Interessanterweise findet sich am Ende auch ein „Confessionario Portuguez & Tamul“ (Seiten 51−57), also eine Art Handbuch für die Beichte, in dem portugiesische Sätze ins Tamil übersetzt werden (in Umschrift). Ein weiteres Beispiel für die frommen Zwecke ist ein „Acto da contriccao“ in Tamil, sowohl in Umschrift als auch in Tamilschrift.