Hauptsache Randbemerkungen
Text und Paratext in antiken Lehrbüchern
Christian Brockmann, José Maksimczuk und Daniel Deckers
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Ursprünglich war der Cod. philol. 88 ein integraler Bestandteil einer viel größeren Handschrift. Auch der erste Teil ist noch erhalten und wird in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrt (Barberinianus graecus 164). Während der umfangreichere vatikanische Band die logischen Abhandlungen des Aristoteles mit zahlreichen Randbemerkungen enthält, besteht der Hauptinhalt des Hamburger Codex aus der Einführung in die Arithmetik von Nikomachos von Gerasa (2. Jahrhundert n. Chr.). Darauf folgte ursprünglich Aristoteles‘ Nikomachische Ethik mit einer Einleitung und am Rand hinzugefügten Erläuterungen des Kommentators Eustratios von Nikaia (12. Jahrhundert), doch leider ist dieser Teil bis auf zwei Blätter verlorengegangen. Hergestellt wurde das Manuskript wahrscheinlich in Konstantinopel. Dank einer entsprechenden Notiz im Barberinianus gr. 164 kennen wir den Namen des Schreibers und das genaue Datum der Fertigstellung: Die beiden Teile, nun getrennt, wurden von Alexios im Jahr 1294 geschrieben. Leider ist wenig über ihn und seinen möglichen Auftraggeber bekannt.
Der Codex war als Arbeits- oder Studienmanuskript konzipiert. Er weist nur wenige einfache Verzierungen auf einzelnen Seiten auf. Neben dem Hauptinhalt der Einführung in die Arithmetik des Nikomachos von Gerasa wurden ein in Scholien gegliederter multigraphischer Paratext sowie zahlreiche genau und schön gezeichnete Diagramme und einige Tabellen mit Inhaltsübersichten in die Hamburger Handschrift eingetragen. Zur visuellen Gliederung des Inhalts hat der Schreiber Zahlen, Fachbegriffe und stichwortartige Erklärungen in Interlinearnotizen sowie gelegentliche Marginalien mit längeren Erläuterungen zum komplizierten Kerntext hinzugefügt. Darüber hinaus gibt es eine Kapitelnummerierung an den Rändern und weitere Paratexte und Korrekturen von späteren Benutzern, sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen, darunter Georgios-Gennadios Scholarios (ca. 1400 – ca. 1472), der erste Patriarch von Konstantinopel nach der Eroberung durch Mehmed II. im Jahr 1453.
Nikomachos von Gerasa studierte die Philosophie des Pythagoras und Platon sowie Musik und Mathematik. Von seinem umfangreichen Werk sind nur ein Handbuch der Musiktheorie und die Einführung in die Arithmetik vollständig erhalten geblieben. Sie wurden bis ins Mittelalter als Lehrbücher verwendet. Die Einführung in die Arithmetik diente, ebenso wie das vergleichbare Werk des Theon von Smyrna (1. und 2. Jahrhundert n. Chr.), in erster Linie der Vermittlung mathematischer Grundlagen zum Verständnis philosophischer Texte und enthielt neben einer philosophischen Einführung auch Abschnitte zur Zahlentheorie, zu Brüchen und zu Zahlenbeziehungen.
Als Arbeits- oder Studienhandschrift veranschaulicht der Hamburger Codex in seinen beiden Textabschnitten, der Einführung in die Arithmetik und den wenigen erhaltenen Seiten der Nikomachischen Ethik, die Praxis der intensiven Kommentierung von Handschriften im Kontext des Gebrauchs, und das Zusammenspiel und die Interdependenz von Kern- und Parakontent. Als Beispiel dafür dient f. 53v: Hier finden wir den Anfang von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik. Gleich im berühmten ersten Satz ist ein Fehler zu erkennen, denn der Begriff τέχνη (techne) wird wiederholt: πᾶσα τέχνη . καὶ τέχνη . καὶ πᾶσα μέθοδος . ὁμοίως δὲ πρᾶξις τὲ καὶ προαίρεσις, ἀγαθοῦ τινὸς ἐφίεσθαι δοκεῖ.
Über den letzten Wörtern des Satzes sind Verweiszeichen eingefügt worden; sie werden am linken Rand unten vor den entsprechenden Kommentarteilen wiederholt. Die exegetischen Randbemerkungen, die auf den byzantinischen Gelehrten Eustratios von Nikaia zurückgehen, beginnen links oben mit einer Erläuterung des Begriffs methodos als „grundlegende Fähigkeit, sich des Verstandes zu bedienen, um sich den Weg (zum Ziel) zu bahnen“ μέθοδός ἐστιν ἕξις ὁδοποιητικὴ μετὰ λόγου, vgl. Eustratios 7,13 Heylbut, CAG 20; siehe auch Johannes Philoponos 6,27–28 Vitelli, CAG 16). Im Folgenden wird betont, dass der Begriff episteme (Wissen, Wissenschaft) im ersten Satz nicht erwähnt wird (ἐπιστήμης δὲ οὐκ ἐμνήσθη). Für diese auffällige Abwesenheit bietet der Paratext mehrere Gründe an. Einer davon lautet, dass, wenn techne und methodos nach etwas Gutem streben, dies natürlich in weit größerem Maße auch für episteme gilt (vgl. Eustratios 7, 17–25 Heylbut, CAG 20).