Rettungen in letzter Sekunde
Die Reisen von Cod. teol. 1565
Katrin Janz-Wenig
Die Handschrift, die heute die Signatur Cod. theol. 1565 trägt, ist in ihrer jetzigen Gestalt ein Objekt des frühen 18. Jahrhunderts. Ihr Weg und ihr Rückweg zu uns sind geradezu spektakulär. In der Tat hat der Band eine Geschichte zu erzählen, wie es das lateinische Sprichwort Habent sua fata libelli – Bücher haben ihre Schicksale treffend versinnbildlicht. Das Wort libellus (pl. libelli) ist in diesem Falle nicht nur als Buch, sondern auch als kleineres Format, ganz im antiken Sinne, wörtlich als Büchlein, Heft, lose gefaltete Blätterlage zu verstehen.
Der Kodex ist ein Fragment und besteht aus einem Hauptteil mit Einfügungen und Hinzubindungen verschiedener Lagen und Einzelblätter weiterer Handschriftenteile, die meist jüngeren Datums sind. Entstanden ist der Hauptteil des vorliegenden Breviers wohl im Skriptorium des Kölner Klosters St. Pantaleon. Dieses verfügte zur Zeit der Entstehung des Hauptteils, dem ausgehenden 12. Jahrhundert, über eine produktive Schreibstube (Skriptorium). Ein schwer zu lesender Besitzeintrag auf einer Seite des Hauptteils der Handschrift, aber auch Schrift und Ausstattung legen die Zuweisung nach Köln jedenfalls nahe. Ein Brevier ist eine sogenannte liturgische Handschrift, die Texte und Gesänge für die Feier des Stundengebetes enthält. Alle in dieser Handschrift hinzugefügten Teile überliefern entsprechende Textpartien und entstammen weiteren Brevier-Handschriften. Die kodikologische Analyse, also die genaue Betrachtung der materiellen Zusammensetzung und des Aufbaus des Manuskripts, ist äußerst schwierig: Die insgesamt 28 Lagen des Bandes stammen von mindestens vier verschiedene Handschriftenfragmenten, die ohne sonderliche Rücksicht auf die übliche Aufeinanderfolge der Gebete im Jahreskreis zusammengebunden wurden. Die weiteren Fragmente stammen aus dem 13. und 14. Jahrhundert.
Wie kam es zu dieser verworrenen Struktur der Handschrift?
Es ist nicht möglich, die Geschichte der einzelnen Bestandteile der Handschrift zu rekonstruieren, doch finden sich Hinweise darauf, wie es im 18. Jahrhundert zur heutigen Form der Handschrift gekommen ist. Der passionierte Handschriften- und Büchersammler Zacharias Konrad von Uffenbach (1683–1734), der eine der umfangreichsten Privatbibliotheken seiner Zeit besaß, machte auf seinen Reisen und bei den damals – wie heute – regelmäßig stattfindenden Buchmessen große Erwerbungen, so auch in seiner Heimatstadt Frankfurt. Sein Biograph, Johann Georg Schelhorn, berichtet, wie Uffenbach 1704 und 1718 auf der berühmten Buchmesse aus großen Haufen von Pergamentblättern ihm wertvoll erscheinende Stücke vor der endgültigen Zerstörung rettete, indem er sie ankaufte und sorgfältig verwahrte. Uffenbach erwarb bei den verschiedenen Gelegenheiten jeweils einen Großteil der Pergamentblätter, setzte diese, so gut er es vermochte, wieder zusammen und ließ sie neu binden; in dieser Form liegen sie noch heute vor. Der ausgestellte Kodex ist ein Beispiel hierfür.
Die Handschriften Uffenbachs wurden in mehreren Chargen vor allem durch die Hamburger Brüder Johann Christoph Wolf (1683–1739) und Johann Christian Wolf (1690–1770) erworben und gelangten durch deren testamentarische Verfügungen in die damalige Stadtbibliothek, der Vorgängereinrichtung der SUB.
Im 2. Weltkrieg wurden die wertvollsten Bestände der Staatsbibliothek an verschiedene Orte ausgelagert. Ein Teil der Handschriften wurde in Schlössern im Erzgebirge und in der Nähe Dresdens verwahrt und überstand dort unbeschadet die Kriegswirren. Hätten sie sich nicht vor dem großen Angriff auf Hamburg, der sogenannten Operation Gomorrah, im Sommer 1943 bereits in Sicherheit befunden, hätte sie ein ähnliches Schicksal ereilt wie den Großteil der alten Drucke, die bei einem Volltreffer auf die Staatsbibliothek vernichtet wurden. Nach dem Krieg wurden die in Sachsen ausgelagerten Hamburger Handschriften, weil sie sich in der sowjetischen Besatzungszone befanden, über Berlin nach St. Petersburg gebracht, wo sie wohl bis 1946 zunächst gesammelt und danach auf unterschiedliche Sowjetrepubliken verteilt wurden. Unsere Handschrift gelangte 1946 oder 1947 nach Eriwan. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es mehrere Rückführungen von Beständen, die letzte 1998 aus Eriwan (Armenien), unter denen sich auch Cod. theol. 1565 befand. Seitdem ist die ausgestellte Handschrift wieder im Besitz der SUB und wird derzeit mit anderen einst kriegsbedingt verlagerten und inzwischen rückgeführten Handschriften wissenschaftlich erschlossen.