Die Herrlichkeit von Vishnu
Vom Materialprofil zur Herkunft eines Palmblattmanuskripts
Giovanni Ciotti und Sebastian Bosch
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SUB Hamburg
Das Manuskript Cod. Palmbl. III 118 stammt aus Indien, genauer aus dem Gebiet des heutigen Tamil Nadu. Wie für Manuskripte aus dieser Region üblich, wurde es aus Palmenblättern hergestellt. Die Blätter werden gekocht, geschliffen und geleimt, um einen gleichmäßigen Stapel von Blättern zu bilden, die beschrieben werden können. Am Anfang und am Ende des Stapels werden in der Regel Holzplatten hinzugefügt. In Palmblattmanuskripten aus Südindien werden die Buchstaben auf beiden Seiten jedes Blattes mit einem Metallgriffel eingeritzt. Die Einschnitte werden meistens durch Einschmieren der Oberfläche mit einer Paste aus einer Mischung aus Ruß und Kräuteröl eingefärbt.
Im Falle von Cod. Palmbl. III 118 fand keine Einfärbung statt: Das Manuskript, das wahrscheinlich für den Versand nach Europa bestimmt war, wurde nie mit der Rußpaste bestrichen und daher wahrscheinlich nie gelesen. Dieser Umstand lädt dazu ein, über die unterschiedlichen Schicksale indischer Manuskripte während der Kolonialzeit nachzudenken.
Der in diesem Manuskript enthaltene Text ist Periyavāccāṉ Piḷḷais Kommentar zu den Amalan̲ātipirān̲ („Der makellose Herr“). Die zehn Hymnen (pācurams), welche ca. aus dem 13. Jahrhundert stammen, wurden von dem Vaishnava-Heiligen Tiruppāṇ Āḻvār verfasst. Diese Hymnen sind nur ein winziger Teil des Nālāyirattivviyappirapantam (auch Nālāyiradivya-prabandha genannt), was so viel bedeutet wie „Viertausend göttliche Hymnen“, aus dem 9. bis 10. Jahrhundert. Der Andachtstext preist die Herrlichkeit von Vishnu, eine der wichtigsten Gottheiten in den verschiedenen Zweigen des Hinduismus. Der Text ist in Tamil verfasst, genauer gesagt in Manipravalam, das enger mit Sanskrit verwand und mit dem Vishnu-Kult in Tamil Nadu verbunden ist.
Tamil ist heute eine der 22 anerkannten Sprachen der indischen Republik. Seine Literatur reicht mindestens bis zum Beginn der gemeinsamen Zeitrechnung zurück. Im Jahr 2004 wurde Tamil auch offiziell als eine der klassischen Sprachen Indiens anerkannt. Manipravalam nimmt in der Geschichte der tamilischen Literatur eine gewisse Sonderstellung ein, da die Beziehung zwischen Tamil und Sanskrit in der Neuzeit immer wieder umstritten war.
Heutzutage wird das Nālāyirattivviyappirapantam immer noch von Anhängern in Tempeln in ganz Tamil Nadu in einem besonderen Stil rezitiert, der verblüffende Ähnlichkeiten mit der Rezitation der Sanskrit-Veden aufweist. Eine Wiedergabe ist hier zu hören.

Sebastian Bosch
Cod. Palmbl. III 118 ist eine der wenigen Palmblatthandschriften, die ein Kolophon des Schreibers enthalten. Ein Kolophon ist eine abschließende Erklärung des Schreibers, in der Informationen wie sein Name, das Datum der Fertigstellung des Manuskripts und der Titel des Textes festgehalten werden. Darüber hinaus liefert es uns auch den Namen des Ortes, an dem das Manuskript erstellt wurde: Thirunarayanapuram.
Wenn wir die materiellen Merkmale dieses Manuskripts – so wie die einer großen Anzahl weiterer Manuskripte, deren Entstehungsort uns bekannt ist – systematisch erfassen, können wir sie mit dem materiellen Profil anderer Manuskripte vergleichen, für die wir diese Informationen nicht haben. Auf diese Weise können wir den vielen tausend Manuskripten, die in Bibliotheken in Tamil Nadu und zum Teil auch in Europa liegen und deren Entstehungskontext nicht bekannt ist, da keine Aufzeichnungen über ihre genaue Provenienz vorliegen, einen Ursprungsort zuordnen.

Sebastian Bosch
Um ein Profil der materiellen Eigenschaften von Palmblattmanuskripten zu erstellen, wenden wir zum Beispiel Phytolithenanalysen, Proteomik und Metabolomik, Mikroskopie und Spektroskopie an. Solche Verfahren werden seit langem für die Untersuchung europäischer Kodizes aus Pergament oder Papier verwendet, sind bisher aber nur äußerst selten oder sogar noch nie zur Untersuchung von Palmblattmanuskripten eingesetzt worden. Daher müssen wir zunächst prüfen, ob sich diese Analysemethoden überhaupt für die Erforschung solcher Schriftartefakte eignen. Unser Ziel ist also ein doppeltes: Zum einen wollen wir geeignete Verfahren für die Materialanalyse identifizieren; das wiederum soll uns in die Lage versetzen, die Literaturgeschichte von Tamil Nadu und die Verbreitung der in dieser Region überlieferten Texte (wer las was und wo) besser rekonstruieren zu können.
Erste Ergebnisse haben bereits gezeigt, dass mit Hilfe der Röntgenfluoreszenzanalyse eindeutige Unterschiede in der elementaren Zusammensetzung von Palmblattmanuskripten aus unterschiedlichen Regionen nachzuweisen sind. Weitere Methoden sollen diese Ergebnisse in Zukunft bestätigen und das materielle Profil noch weiter präzisieren.