Musik für Maria
Die ältesten Hamburger Kompositionen
Oliver Huck
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Bei den beiden in diesem nur aus zwei Lagen bestehendem Manuskript aus dem späten 15. Jahrhundert enthaltenen Offizien zu Ehren von Maria und der heiligen Anna handelt es sich um die mutmaßlich älteste in Hamburg komponierte, in gothischer Choralnotation („Hufnagelschrift“) aufgezeichnete Musik, da diese im Gegensatz zu den übrigen in den Hamburgischen Manuskripten enthaltenen liturgischen Gesängen nicht andernorts belegt ist.
Das Marien-Offizium trägt den Titel Historia de Compassione Gloriosissimae Virginis Mariae. Wie in den auch als Historiae betitelten Offizien des Mittelalters üblich, wird über den Tag (einschließlich des Vorabends) des Kirchenfestes (Compassio Mariae, in Hamburg am Freitag nach dem vierten Fastensonntag) verteilt in den Stundengebeten die Vita erzählt. Auch das Offizium zu Ehren der heiligen Anna, deren Platz im Kalender im 15. Jahrhundert der 26. Juli war, ist in gleicher Weise organisiert. In Hamburg wurde wie in vielen Städten 1492 eine Annen-Bruderschaft gegründet, sie ist ein Ausdruck der im 15. Jahrhundert zunehmenden Verehrung der Mutter Marias. Während viele Offizien Texte in gereimten Versen vertonen, sind die Texte der beiden Hamburger Offizien in Kunstprosa verfasst. Wie in den Offizien üblich, sind die je neun Antiphonen und Responsorien der drei Nokturnen der Matutin nach einem Tonartenplan organisiert, indem die acht Modi (Kirchentonarten) der Reihe nach in je einem Gesang erklingen. Zu weiteren Marienfesten, der Assumptio Mariae (15. August) und der Praesentatio Mariae (21. November), verfasste der Hamburger Kanoniker Johannes Hane (†1492) Texte für Offizien im Auftrag des Domkapitels, diese sind im Cod. Petri 62 beziehungsweise in einem heute in der Stadtbibliothek Lübeck (2° 23) verwahrten Codex enthalten.
Das Manuskript ND VI 471 wurde im Hamburger Dom verwendet, wie ein Vermerk im Innendeckel („ad usum Ecclesiae Cathedral: Hamburgens:“) bezeugt. Die beiden Offizien sind von zwei verschiedenen Schreibern in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts notiert worden, das Annen-Offizium vermutlich etwas später als das Marien-Offizium. Die Initialen weisen Parallelen zu dem Missale Cod. Cath. 7 auf und die beiden Manuskripte aus dem Hamburger Dom und aus St. Katharinen sind im gleichen Skriptorium, vermutlich in Hamburg, entstanden.
Das Antiphonar wurde 1784 zusammen mit anderen Büchern aus dem Hamburger Dom versteigert und von der Gräflich Stolbergschen Bibliothek in Wernigerode erworben, die ihrerseits in den Jahren 1928–30 versteigert wurde, sodass die Hamburger Stadtbibliothek das Manuskript 1931 erwerben konnte. 1943 wurde es dann kriegsbedingt nach Schloss Lauenstein in Sachsen ausgelagert und nach dem 2. Weltkrieg von der russischen Armee zusammen mit anderen ausgelagerten Beständen nach Leningrad verbracht. 1995 bot ein New Yorker Kunsthändler das Manuskript der SUB Hamburg zum Kauf an und es wurde 1999 zurückerworben, im selben Jahr, in dem andere, nach Armenien verbrachte Bestände an die SUB zurückgegeben wurden. Weitere nach Russland verbrachte Musikalien lagern nach wie vor in der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg, viele müssen als verschollen gelten oder verbrannten während der Operation Gomorrha in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943.