Spuren eines Skandals
Das Soufflierbuch von Friedrich Ludwig Schröders Hamburger Othello-Adaption
Martin Jörg Schäfer
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SUB Hamburg
Theater-Bibliothek: 571 ist ein sogenanntes Soufflierbuch. Es wurde für eine Produktion von William Shakespeares Othello am Hamburger Stadt-Theater (damals am Gänsemarkt) am 26. November 1776 angefertigt – und für drei weitere Aufführungen an den folgenden sieben Tagen. Der Souffleur las während der Aufführungen leise im Manuskript mit und griff ein, wenn die Schauspieler ihre Einsätze verpassten oder ihren Text vergaßen. Gleichzeitig diente ein Soufflierbuch als eifrig gehütete Vorlage für die von der Truppe inszenierte Fassung des Stücks; die Schauspieler hatten nur ein Büchlein mit ihrem Rollentext und den jeweiligen Stichworten.
Das Soufflierbuch zum Othello ist eng mit dem bekanntesten Theaterskandal im deutschsprachigen Raum verbunden: Während der Uraufführung sollen viele Gäste das volle Theater unter lautstarken Äußerungen der Missbilligung und Türen zuschlagend verlassen haben. Angesichts der immer intensiver werdenden Eifersuchts-, Intrigen- und schließlich Mordszenen sollen mehrere Zuschauerinnen in Ohnmacht gefallen sein; sogar von Fehlgeburten ist die Rede. Die zweite Aufführung des Stücks war so schlecht besucht, dass sich der berühmte Theaterprinzipal Friedrich Ludwig Schröder gezwungen sah, das Stück entscheidend zu überarbeiten. Theater-Bibliothek: 571 legt Zeugnis ab von seinem Versuch, eine durchgefallene Produktion zu retten.

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Wenige Monate zuvor hatte Schröder mit einer Adaption des Hamlet einen überwältigenden Erfolg erzielt, der die anhaltende deutsche Faszination für dieses Stück auslöste. Allerdings hatte Schröder die Handlung entsprechend den Konventionen der damaligen Zeit verändert. Das Stück bekam ein Happy End, Hamlet wurde zum tatkräftigen Helden. Mit dem darauffolgenden Othello wollte Schröder sein Publikum weiter an Shakespeare heranführen, während sein Publikum mehr vom Gleichen erwartete. Schröder hatte dafür Othellos grausamen Mord an der unschuldigen Desdemona abgeschwächt, indem er eine sexuell aufgeladene Strangulierung zu einem einfachen Messerstich machte. Aber die furchtbare Tat selbst blieb bestehen und löste den öffentlichen Aufschrei aus.
Schröder musste sich ein neues Ende einfallen lassen, das dann in die Reinschrift des Othello-Soufflierbuchs einzuarbeiten war. Selbst bei größeren Änderungen an einer Inszenierung erstellten die Theater aus zeitlichen und wirtschaftlichen Gründen in der Regel kein neues Soufflierbuch. Viel effizienter war es, das bestehende zu überarbeiten.
In der ursprünglichen Fassung hatte Schröder bereits die Übersetzung von Christoph Martin Wieland gestrafft und sich dabei von einer zeitgenössischen Vereinfachung des Othello durch C.H. Schmid inspirieren lassen. Nachdem die Inszenierung beim Publikum durchgefallen war, wandte sich Schröder einer noch freieren Bearbeitung von J.H. Steffens zu. Er wollte an seinen früheren Erfolg mit dem Hamlet anknüpfen, aber diesmal die Texttreue nicht ganz aufgeben: Desdemona wurde gerettet, aber der beschämte Othello beging am Ende weiterhin Selbstmord.

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Schröders eigene Hand und die des ursprünglichen Schreibers strichen den zurückgenommenen Text durch und fügten Ergänzungen, die auf die andere Wendung der Ereignisse vorbereiteten, in Leerstellen, an den Rändern oder auf leeren Seiten ein. Bei komplexeren Änderungen klebten sie Einschübe über den älteren Text. Eine neue Szene, in der Desdemonas Kammerzofe eine böse Vorahnung hat, wird auf der leer gelassenen Seite am Ende des vierten Aktes eingefügt. In der Mitte des fünften Aktes ist die Rücknahme des Mordes selbst jedoch so unauffällig wie nur denkbar: Die Worte „Er sticht sie“ werden mit ein paar nüchternen Strichen getilgt. Dann hören die Bearbeitungen für die letzten vier Szenen plötzlich auf. Da die Ausstattung der Schauspieler mit dem aktualisierten Text das vordringlichste Anliegen war, wurde der aus der Theatergeschichte überlieferte auf Steffens basierende Schluss wahrscheinlich auf Extrablättern für den Souffleur abgeschrieben. Diese könnten dann, wie auch sonst üblich, lose in das Othello-Soufflierbuch eingefügt worden und später verlorengegangen sein. Anschließend war es wohl nicht mehr nötig, die Umgestaltung von Theater-Bibliothek: 571 zu beenden.

Während Schröders Hamlet noch jahrzehntelang für Aufsehen sorgte, wurde die Othello-Produktion nach zwei Aufführungen der überarbeiteten Fassung in der darauffolgenden Woche nicht weiter gegeben. Alle Bemühungen Schröders waren umsonst gewesen. Von diesem Inbegriff eines Theaterskandals ist neben den überlieferten Sensationsgeschichten nur das Soufflierbuch Theater-Bibliothek: 571 übrig geblieben.
Signatur
Theater-Bibliothek: 571
Material: Papier, 93 Blätter, Pappeinband
Maße: 16,5 × 20,5 cm
Herkunft: Hamburg, 1776