Erinnerungsstücke
Ein Albumeintrag von Iganz Mocheles
Oliver Huck
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Stammbücher und Alben sind Manuskripte, in denen ihre Besitzer eigenhändige Einträge von Freunden, Bekannten und Prominenten als Andenken sammelten. In der Regel umfasst jeder Eintrag eine Seite und ist mit Datum, Widmung und Unterschrift versehen. Bereits unmittelbar nach dem Aufkommen der Stammbücher im 16. Jahrhundert wurde neben Texten und Bildern auch Musik eingetragen, bis in das 18 Jahrhundert hinein vor allem Kanons und Lieder, die sich aufgrund des geringen Platzbedarfs auf einer Seite aufzeichnen lassen, in geringerem Umfang auch Instrumentalmusik, vor allem für Klavier. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer Ausdifferenzierung der Alben, wie die Stammbücher nun vielfach genannt wurden, und es entstand der Typus des Musikalbums, in dem primär oder ausschließlich Musik gesammelt wurde. Bei den Einträgen handelt es sich teilweise um reine Widmungen, in denen Komponisten ein kurzes Notenzitat, meist aus einem ihrer eigenen Werke, mit einer Dedikation, Datum und Unterschrift versahen und die so als Andenken fungieren und durch eigenhändige Niederschrift die Präsenz des Schreibers evozieren.
Vielfach wurden jedoch auch vollständige, teilweise erst bei dieser Gelegenheit entstandene Kompositionen eingetragen, die von den Empfängern selbst, vor allem am Klavier oder mit Gesang dazu, gespielt werden konnten. Die berühmteste ist Ludwig van Beethovens „Für Elise“, eine Komposition, die als ein solches „Albumblatt“ (vermutlich für Therese Malfatti) entstanden ist und damit heute einen Titel trägt, der ab den 1840er Jahren auch unabhängig von der tatsächlichen Bestimmung für das Album einer Sammlerin oder eines Sammlers für Klavierstücke und Sammlungen von Klavierstücken (wie Robert Schumanns Album für die Jugend) Verwendung fand.
Ignaz Moscheles (1794–1870) galt als einer der führenden Klaviervirtuosen und -lehrer seiner Zeit. Nach seiner Hochzeit 1825 in Hamburg lebte er lange Zeit in London, wo er unter anderem an der Royal Academy of Music unterrichtete, bevor er 1846 auf Wunsch seines früheren Schülers Felix Mendelssohn Bartholdy die Leitung der Klavierklasse am Leipziger Konservatorium übernahm. Als Komponist schrieb er vor allem für sein Instrument, sowohl zum eigenen Vortrag als auch für Schülerinnen und Schüler sowie Freundinnen und Freunde. Moscheles führte selbst ein Musikalbum, ebenso seine Frau Charlotte und seine beiden älteren Töchter Emily und Serena. Im Gegenzug schrieb sich Moscheles auf seinen Konzertreisen im Laufe seines Lebens in viele Alben ein, rund 100 solche Einträge lassen sich derzeit nachweisen (vgl. Rost 2020, S. 259–67). Am 7. Januar 1845 schrieb er in Dresden, wo er abends unter anderem sein Klavierkonzert op. 60 sowie das Tripelkonzert von Johann Sebastian Bach für drei Klaviere zusammen Ferdinand Hiller und Clara Schumann in einem der von Hiller im Jahr zuvor etablierten Abonnementskonzerte spielte, sowohl für Marie Julie Hogé als auch für ihrer Schwester Antolka Hiller ein Albumblatt (vgl. Rost 2020, S. 245).
Während er für die Frau des Komponisten Ferdinand Hiller ein kurzes Andante melanconico in e-Moll für Klavier in dessen Album eintrug (Köln, Historisches Archiv der Stadt, Bestand 1051, A 1, Nr. 231), revanchierte sich Hiller am folgenden Tag mit einem Eintrag (für den er den Beginn des von ihm am Abend zuvor dirigierten Konzertes von Moscheles wählte) in Moscheles’ Album (London, British Library, Zweig 215, fol. 135v), das dieser bei sich führte, vgl. zu diesem Album Henrike Rost 2020. Für Marie Julie Hogé (1820–1880), die später Alphonse de Bernard, Vincomte de Calonne heiratete, schrieb Moscheles ein längeres Klavierstück „con Sentimento“ in a-Moll auf ein loses Blatt. Während die meisten Musikalben im Querformat angelegt wurden, weist das heute in Hamburg befindliche Blatt, nachdem das für Notenpapier typische Hochformat am unteren Rand beschnitten wurde, ein nahezu quadratisches Format auf. Unklar ist, ob es je Bestandteil eines Albums war – die erkennbaren Faltungen würden zu einem kleinen Format führen und vielfach wurden Einzelblätter in Alben geklebt, gebunden oder eingelegt –, oder von vornherein als loses Albumblatt fungierte. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die Empfängerin das nicht allzu schwere Stück selbst spielte. Moscheles unterzeichnete weltgewandt mit „A Mademoiselle Julie Hogé par I. Moscheles Dresde ce 7 Janvier 1845“. Wie das Blatt in die Sammlung des Altonaer Autorgraphensammlers Oscar Ulex gelangte, ist nicht bekannt. Teile seiner Sammlung wurden dann von der Stadt Altona erworben (andere 1927 versteigert) und zunächst im Stadtarchiv Altona verwahrt.