Für immer eine Familie
Das bemerkenswerte Kolophon von Cod. orient. 509
Peera Panarut
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Manuskripte mit religiösen Texten waren in der buddhistischen Tradition Südostasiens beliebte religiöse Spenden. Schreiber und Stifter hofften, durch die Herstellung beziehungsweise Schenkung solcher Manuskripte Verdienste zu erwerben, um ins ewige Leben einzugehen. Auch Cod. orient. 509 ist ein solches Manuskript. Es ist aber noch mehr als das: Sein Kolophon verrät Bemerkenswertes über seine Stifter.
Cod. orient. 509 gehört zur Gattung siamesischer (thailändischer) Faltbücher, die als Phra Malai-Manuskripte bezeichnet werden. Sie bewahren die thailändischen Gedichte Phra Malai Klòn Suat in einem großformatigen, aus gräulichem Khòi-Papier gefertigten Leporello-Manuskript. Die Khòm-Schrift, eine Variante der Khmer-Mul-Schrift, wurde in Thailand seit dem 13. Jahrhundert insbesondere in religiösen und rituellen Kontexten verwendet. Der in Pali und Thai verfasste Haupttext erzählt von den Reisen des Mönchs Phra Malai in die Höllen und danach in die Himmel, wo er sich mit Indra und Ariya Metteyya unterhält. Später berichtet er den Menschen über seine Erfahrungen.
Unter den verschiedenen in Thailand bekannten Versionen der Erzählungen von Phra Malai ist die in Cod. orient. 509 enthaltene die bekannteste; sie findet sich in mehr als 100 Manuskripten aus dem 18. bis 20. Jahrhundert. Seine Urheber und das Entstehungsdatum sind unbekannt, sicher ist aber, dass Phra Malai Klòn Suat im ganzen Gebiet von Zentral- und Südthailand bei klösterlichen Ritualen gesungen wurde. Daher wurde der Text jahrhundertelang von Mönchen und Laien gesponsert und kopiert. Darüber hinaus haben zahlreiche Phra-Malai-Manuskripte, auch Cod. orient. 509, farbige Miniaturen, die Szenen aus Phra Malais Erzählung darstellen (zum Beispiel aus Hölle und Himmel). Diese spiegeln auch den wirtschaftlichen Status der Sponsoren wider. Auf einigen illustrierten Seiten ist die Schrift sogar dekorativ mit Gold geschrieben.
Dem Kolophon zufolge wurde Cod. orient. 509 im Jahr 1874 vom siamesischen Adligen Luang Si Thip Phakdi, seiner Gattin und ihrer gemeinsamen Tochter gestiftet. Die Eltern äußern den ausdrücklichen Wunsch, bei jeder Wiedergeburt Ehemann und Ehefrau zu sein. Das Kolophon lautet: „Am Donnerstag, dem ersten Tag des zunehmenden Mondes im neunten Monat des Jahres Cunla Sakkarat 123[6], dem Jahr des Hundes, dem sechsten Jahr des Jahrzehnts [Donnerstag, dem 13. August 1874], haben wir, Luang Si Thip Phakdi und seine Frau Mae Hòm und unsere Tochter Chün, dieses Phra-Malai-Manuskript für die Religion gestiftet. Wenn wir in der Zukunft sterben, mögen wir uns in den nächsten Leben wiedersehen und als Ehepaar und als Familie sein. Mögen wir in Zukunft Erleuchtung erlangen.“
Auf der folgenden Seite fährt das Kolophon von Mae Hòm, der Frau, fort: „In der Zukunft … wünsche ich, Mae Hòm, die Frau von Luang Si Thip Phakdi, immer seine Frau zu sein. Möge er allein mein Ehemann sein!“
Cod. orient. 509 enthält also nicht nur den vollständigen Text von Phra Malai Klòn Suat in einer sorgfältigen Handschrift und einigen wunderschönen farbigen Malereien. Sein Kolophon verleiht auch der Stimme einer Frau in einer polygynen Gesellschaft wie im Thailand des 19. Jahrhunderts, in der Männer mehrere Ehefrauen hatten, Ausdruck. Das Manuskript wurde also nicht nur erstellt, um Verdienste für das Erreichen des Nirvana zu erwerben, sondern auch, um sich eine ewige Ehe im gegenwärtigen und allen zukünftigen Leben zu wünschen.