Nr. 34
Aus Liebe zur Kalligraphie
Der Brief eines chinesischen Kalligraphen
Mi Fu 米芾 (1051–1107), ein aufgrund seines kalligraphischen Talents berühmter Beamtengelehrter des 11. Jahrhunderts, schrieb einem Freund, um ihm im Tausch gegen ein von ihm bewundertes altes kalligraphisches Kunstwerk einige kostbare Gegenstände anzubieten. Das Ergebnis war ein kurzer Brief, der bis heute erhalten ist. Obwohl der Brief nur 85 chinesische Schriftzeichen umfasst, ist er ein Zeugnis von großer kultureller Bedeutung, und der Stil, in dem er geschrieben wurde, demonstriert das bewundernswerte künstlerische Talent des Verfassers. Wie sind Form und Inhalt in einem derartigen chinesischen Brief miteinander verbunden, oder anders formuliert, wie verhalten sich die brieflichen und kalligraphischen Eigenschaften des Manuskriptes zueinander?
Die Kalligraphie bildete eine der Hauptantriebskräfte der chinesischen Briefkultur, und dieses Manuskript ist ein vortreffliches Beispiel dieses Phänomens. Anderen von Mi Fu und seinen Bekannten stammenden historischen Quellen können wir entnehmen, dass dieser etwa um das Jahr 1091 geschriebene, an Liu Jisun 劉季孫 (1033–92), einen anderen Beamtengelehrten, gerichtete kalligraphische Brief die Absicht verfolgte, ein Geschäft abzuschließen. Mi Fu bewunderte ein kalligraphisches Manuskript, das sich im Besitz von Liu Jisun befand – einen Brief von Wang Xianzhi 王獻之 (344–86), einem der bedeutendsten und berühmtesten Kalligraphie-Meister des frühmittelalterlichen China, den Mi Fu bewunderte. Obwohl dieser Brief nicht mehr erhalten ist, wissen wir aus den von ihm angefertigten Abreibungen noch, wie er aussah. Abreibungen werden von nachgemeißelten Steingravuren einer Kalligraphie genommen, die in der Regel akkurate Reproduktionen der ursprünglichen Handschrift sind. Diese wurden im kaiserlichen China angefertigt, um von Meistern geschaffene Werke zu bewahren und zu verbreiten. Wir wissen, dass Wang Xianzhis Brief (die zwei Zeilen rechts in der Abreibung in Abb. 2) eine kurze Mitteilung über die Sendung von Birnen an einen Freund enthielt und dass Mi Fu, ein Bewunderer des Kalligraphie-Stils jenes Zeitalters, diesen Brief hochschätzte. Deshalb bot er Liu Jisun im Austausch dafür die folgenden Kostbarkeiten an: ein kalligraphisches Werk des Mönchs Huaisu 懷素 (739–99) und zwei von Ouyang Xun 歐陽詢 (557–641), sechs Bilder von Schneelandschaften des Malers und Dichters der Tang-Dynastie (618–907) Wang Wei 王維 (699–759), einen Gürtel mit Verzierungen aus Rhinozeroshorn und einen Korallenschmuck mit Jadeständer. Mi Fu fügte auch noch einen Tuschestein hinzu, d.h. ein Stein, den man zum Zerreiben der Tusche benutzte. Dieser war besonders wertvoll, da er in die Mitte eines steinernen Miniatur-Bergs eingelassen war. Bei all diesen von Mi Fu angebotenen Gegenständen handelte es sich um Dinge, die im traditionellen China von Gelehrten hochgeschätzt wurden.
Übersetzung:
Wundervolle Kalligraphie des Vizedirektors im Ministerium für Riten
Wie gefällt Ihnen die in ihrer Hülle befindliche Kalligraphie Huaisus? Sie gehörte Herrn Li Wei aus Chang’an. Wang Qinchen vom Ministerium für Arbeit und Xue Daozu waren überrascht, sie zu sehen, und meinten, Huang Xin hätte sie von Li Wei erworben. Ich kaufte sie vor einem Jahr von Huang Xins Familie in Yangzhou gegen mehr als einhundert Schnapskrüge. Über die anderen Dinge will ich gar nicht reden. Sie haben diese Kalligraphie auch schon gesehen. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Ihnen alles schicken. Den Steinberg-Tuschestein werde ich morgen zurückbekommen. Ich freue mich auf Ihre Antwort.
Ich, Mi Fu, werfe mich nieder. An den Ehrwürdigen Liu Jisun Jingwen aus Xizhou.
Um sein Interesse zu bekunden, ging Mi Fu bei der Einfädelung des Geschäfts äußerst höflich und taktvoll vor. Er beginnt seinen Brief mit Angaben über eine in seinem Besitz befindliche Kalligraphie Huaisus: „Wie gefällt Ihnen die in ihrer Hülle befindliche Kalligraphie Huaisus? Sie gehörte Herrn Li Wei aus Chang’an. Wang Qinchen vom Ministerium für Arbeit und Xue Daozu waren überrascht, sie zu sehen, und meinten, Huang Xin hätte sie von Li Wie erworben. Ich kaufte sie vor einem Jahr von Huang Xins Familie in Yangzhou gegen mehr als einhundert Schnapskrüge … Sie haben diese Kalligraphie auch schon gesehen.“ Indem er das Erstaunen seiner zwei Freunde und den Preis, den er für das Werk bezahlt hat, erwähnt, spielt er auf den Wert der Kalligraphie an, über die er mit Liu Jisun verhandeln möchte. Er sagt nicht viel über die anderen von ihm angebotenen Gegenstände, aber den Tuschestein hatte sich zum damaligen Zeitpunkt gerade jemand anderes ausgeliehen. Demgemäß merkt Mi Fu in dem Brief an: „Den Steinberg-Tuschestein werde ich morgen zurückbekommen.“ Danach könnte Mi Fu ihn alsdann Liu Jisun als einen der Tauschgegenstände für die Kalligraphie anbieten, die er sich sehnlichst wünschte. Wenn man den Umstand berücksichtigt, dass Mi Fu zu jener Zeit schon recht bekannt für seine Kalligraphien war und seine Arbeiten einen Marktwert besaßen, kann man den Brief selbst auch als ein Zeichen seines guten Willens betrachten.

Am Ende des Briefes findet sich in der vorletzten Zeile eine gebräuchliche, Formel, mit der man damals einen Brief abschloss: „Ich, Mi Fu, werfe mich nieder.“ Da es sich hier um eine übliche Art und Weise handelte, einen solchen Brief zu beenden, würde der Empfänger in der Lage sein, die Schriftzeichen zu entziffern, obgleich sie spielerisch mit einem einzigen Pinselstrich mit vielen Windungen geschrieben waren (siehe Abb. 3). In der letzten Zeile erwähnt Mi Fu den Empfänger: „An den Ehrwürdigen Jingwen aus Xizhou.“ Diese Anrede spricht Liu Jisun mit seinem Ehrentitel und Großjährigkeitsnamen an. Um seinen Respekt für Liu zum Ausdruck zu bringen, schrieb Mi Fu diese sechs Schriftzeichen auch erheblich größer als die anderen Schriftzeichen des Briefes. Er verbindet hier also Inhalt und Form perfekt miteinander.

Bedauerlicherweise kam das von Mi Fu vorgeschlagene Geschäft letztendlich nicht zustande. Die Person, die den Tuschestein ausgeliehen hatte, gab diesen erst zwei Tage, nachdem Liu Jisun zu einem Dienstposten anderenorts abgereist war, an Mi Fu zurück, sodass das Geschäft nicht zustande kam. Und Liu starb, kurz nachdem man sich auf ein anderes Geschäft geeinigt hatte. Liu Jisun hinterließ viele Schriftrollen mit Kalligraphien, aber sein Sohn verkaufte die Kalligraphie von Wang Xianzhi an jemand anderen, für einen sehr viel höheren Preis als den von Liu Jisun beim Kauf ursprünglich dafür bezahlten.
Der sich in den scheinbar spontanen Pinselstrichen dieses Briefes manifestierende Rhythmus und die Bewegung wurden viel gepriesen. Ein Lob dieses kalligraphischen Briefes aus späterer Zeit von dem Connaisseur Xianyu Shu 鮮于樞 (1246–1302) wurde an den Anfang des Manuskripts angeklebt: „Wundervolle Kalligraphie des Vizedirektors im Ministerium für Riten.“ Nur die Hälfte des großen Siegelabdrucks in der ersten Zeile ist noch zu sehen, was zeigt, dass das Manuskript gestutzt und neu aufgezogen wurde. Mi Fu wurde 1106 zum Vizedirektor ernannt und seine Bewunderer bezeichneten ihn posthum oft mit diesem Titel. Briefe von chinesischen Kalligraphen wie ihm wurden in später veröffentlichten Sammlungen von Muster-Kalligraphien (fatie 法帖) oder Schönschreibheften für Kalligraphie-Liebhaber und -Sammler reproduziert, um deren kalligraphischen Stil wertzuschätzen und von ihnen zu lernen. Dieses Manuskript zum Beispiel wurde Mitte des 18. Jahrhunderts in Form einer Abreibung vom kaiserlichen Hof als Teil einer vom Kaiser Qianlong (regierte 1736–95) in Auftrag gegebenen Mustersammlung reproduziert. Die Sammlung ist noch erhalten (siehe Abb. 4). Bis heute werden die stilistischen Charakteristika dieses speziellen Briefes in der chinesischen Kalligraphie nachgeahmt.
Als Sammlerstück war das Original-Manuskript zusammen mit drei anderen kalligraphischen Werken Mi Fus als Set im Umlauf. Zur Zeit der Qing-Dynastie (1644–1912) waren diese Teil eines Albums, das die Werke von vier Kalligraphie-Meistern des gleichen Zeitalters umfasste: Su Shi 蘇軾 (1037–1101), Huang Tingjian 黃庭堅 (1045–1105), Cai Xiang 蔡襄 (1012–1067) und Mi Fu. Die Siegelabdrücke auf den zwei Rändern am unteren Ende des Manuskripts zeigen, wie dieser Brief im Besitz verschiedener Sammler war, ganz ähnlich der Situation beim Manuskript des Monats, März 2013. Diese Siegel auf Mi Fus Manuskript deuten darauf hin, dass es einmal Teil der kaiserlichen Sammlung der Ming-Dynastie (1368–1644) und in den Händen privater Sammler war, bevor es in der Mitte des 20. Jahrhunderts von der zurückweichenden nationalistischen Regierung nach Taiwan mitgenommen wurde. Hier wird das Manuskript bis heute aufbewahrt.

Dieser Brief wurde aus Liebe zur Kalligraphie geschrieben und aufbewahrt wurde er ebenfalls aufgrund des kalligraphischen Wertes, den er verkörpert. So schließt sich der Kreis der Liebe zur Kalligraphie.
Literatur
- BAI Qianshen (1999): „Chinese Letters: Private Words Made Public“. In: Robert Harrist Jr. et al. (Hgg.): The Embodied Image: Chinese Calligraphy from the John B. Elliott Collection at Princeton, Princeton: The Art Museum, Princeton University, 383-84.
- CAO Baolin 曹寶麟 (1991): Bao weng ji 抱甕集. Taibei: Huifeng bimo youxian gongsi, 32-36.
- HE Chuanxing 何傳馨 (2006): „Zhi Jingwen Xigong chidu (qiezhong tie) 致景文隰公尺牘(篋中帖)“. In: Lin Boting 林柏亭 (Hg.): Daguan: Bei-Song shuhua tezhan 大觀——北宋書畫特展, Taibei: Guoli gugong bowuyuan, 329-31.
- LEDDEROSE, Lothar (1979): Mi Fu and the Classical Tradition of Chinese Calligraphy. Princeton: Princeton University Press.
- NATIONAL PALACE MUSEUM (Hg.): „Zhi Jingwen Xigong chidu (qiezhong tie) 致景文隰公尺牘(篋中帖)“. In: http://tech2.npm.gov.tw/sung/html/graphic/c_t2_2_a23.htm (abgerufen am 26.7.2014).
- SATORU Yoshida 吉田悟 (2003): „Bei Futsu Shoshi kō (1) 米芾『書史』考(一)“. In: Soka Daigaku Daigakuin Kiyo 創価大学大学院紀要 25, 349-373.
- STURMAN, Peter Charles (1997): Mi Fu: Style and the Art of Calligraphy in Northern Song China. New Haven: Yale University Press.
- XU Bangda 徐邦達 (1987): Gu shuhua guoyan yaolu (Jin, Sui, Tang, Wudai, Song shufa) 古書畫過眼要錄 (晉、隋、唐、五代、宋書法). Changsha: Hunan meishu chubanshe, 343-45.
- Xu Sanxitang fatie 續三希堂法帖. Beijing: Beijing guji chubanshe, 1988.
- ZHONGGUO SHUDIAN 中國書店 (Hg.) (1986): Sanxitang fatie 三希堂法帖. Beijing: Zhongguo shudian.
Beschreibung
Nationales Palastmuseum (Taipeh)
Material: Albumblätter, Tusche auf Papier
Maße: 28,2 x 41,9 cm
Jahresangabe: ca. 1091, Runzhou (heutiges Zhenjiang), Provinz Jiangsu, China
Text von Lik Hang TSUI