Nr. 30
Wenn der Mars im Zeichen des Steinbock…
Wer heutzutage einen Ausflug plant oder ein Grillfest, wird vielleicht die Tagesschau abwarten, wirft einen Blick ins Internet oder greift auf eine App zurück – aber wer würde auf die Idee kommen, die Sterne zu befragen? Tatsächlich hätten bis ins 18. Jahrhundert hinein nur wenige den Zusammenhang zwischen den Konstellationen der Gestirne und dem irdischen Wetter bestritten – praktischen Ausdruck fand dieser als „Astrometeorologie“ bezeichnete Aberglaube in den sogenannten „Schreibkalendern“, die für ein Jahr im Voraus ihre Prophezeiungen machten. Unter der Signatur Ms. Hass. 4°57 der Handschriftenabteilung der Landes- und Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel verbirgt sich ein ganz besonderes Exemplar eines solchen „Schreibkalenders“.

Im Winter des Jahres 1624 verfasste der 17jährige Landgraf Hermann IV. von Hessen-Rotenburg (1607-1658) auf der Burg Plesse bei Göttingen einen astronomischen und meteorologischen Kalender als Geschenk für seinen Vater, Landgraf Moritz „der Gelehrte“ von Hessen-Kassel (1572-1632). Während eine Fußverkrüppelung, die ihn ein Leben lang zwang, eine eiserne Prothese zu tragen, eine militärische Karriere verhinderte, bildeten sich Hermanns Stärken auf wissenschaftlichem Gebiet heraus. Wie sein Vater Moritz und Großvater Wilhelm IV. (1532-1592) – beide große Förderer der Naturwissenschaften – begeisterte er sich für die Astronomie und war ein anerkannter Forscher auf den Gebieten der Meteorologie, Mathematik, Astronomie und Geographie. Zu seinen bekanntesten Werken zählt etwa seine Historia meteorologica, in der er seine jahrzehntelange, systematische Wetterbeobachtung publizierte und sich auf dieser Grundlage kritisch mit den vielfältigen Bauernregeln auseinandersetzte, um sie „empirisch“ zu entkräften.

Das Manuskript – welches sich spätestens seit 1780 in Kassel befindet – hat Kleinquartformat, ein Name, der sich aus der Anzahl der Blätter ableitet, die bei der Papierherstellung pro Falzbogen entstehen. Beim Quart wird der Papierbogen zweimal gefaltet und bildet dementsprechend vier Blätter. Beim einstigen Einband, der seit der Restaurierung (um 1975) durch einen Halbledereinband ersetzt und hinten mit eingebunden wurde, handelt es sich um das Fragment einer mittelalterlichen Handschrift, die als Messbuch des 14. Jahrhunderts identifiziert werden konnte. Ebenfalls mit eingebunden ist ein in einer feinen Kursivschrift verfasster Brief Hermanns’ an seinen Vater (Abb. 1). Der im Gegensatz zum Schreibkalender auf Latein abgefasste Text – geschrieben am ersten Januar 1625 auf der Plesse – berichtet einerseits vom Wohlergehen seiner Mutter und Geschwister, andererseits bestellt er seinem Vater Moritz seine Glückwünsche für das kommende Jahr und macht ihm den Kalender, den „ersten Ertrag meiner astrologischen nächtlichen Arbeit“, zum Geschenk.

Auf der Rückseite des Briefes spiegelt sich auch ein Stück moderner Bibliotheksgeschichte wider: dort ist – mit blauer, nicht zu entfernender Farbe – der Stempel „Murhard‘sche /Bibliothek der/Stadt Kassel und/Landesbibliothek“ aufgebracht. Zwar stand die Landesbibliothek in der Zeit, als jener Stempel in Gebrauch war (1958-1975), unter städtischer Verwaltung, doch „städtisches Eigentum“ war das Manuskript dadurch noch lange nicht. Der Stempel „EX BIBLIOTHECA CASSELLANA“ (Abb. 2) findet sich indes auf einer anderen Seite, der dort im 18. Jahrhundert gesetzt wurde und den Schreibkalender als alten Landesbibliotheksbestand kennzeichnet.
Die folgenden 42 Seiten beinhalten schließlich den „Schreib Calender“, der sich an den üblichen Gestaltungsmerkmalen des damaligen Kalenderwesens orientiert. Auf das eigentliche Kalendarium mit (fast) leeren Notizseiten folgt eine erklärende „Praktik“ – nach damaligem Sprachgebrauch der Name für den erläuternden Teil eines Kalenders –, die im Grunde den vorhergegangenen Inhalt noch einmal mit unterschiedlichem Schwerpunkt wiederholt.

Die mit Schmuckrahmen versehene Titelseite (Abb. 3) birgt – neben dem Namen des Autors – eine weitere Besonderheit: Vier Abbildungen, zwei geschwärzte Sonnen sowie teilweise schwarze Monde, unter denen astrologische Symbole angebracht sind. Diese werden auf der folgenden Seite aufgelöst – dargestellt sind die für das Jahr 1625 zu erwartenden Sonnen- wie Mondfinsternisse sowie der Lauf des Mondes durch den Tierkreis am entsprechenden Tag. Für jedwede Form astrologischer wie astrometeorologischer Überlegungen waren solche Himmelserscheinungen von elementarer Bedeutung!
Auf der folgenden Seite (Abb. 2) finden sich – neben der Auflösung der astronomischen Zeichen – noch weitere Angaben, die das Jahr beschreiben. Dies wäre etwa der Sonnenzirkel, ein 28 Jahre währender Zyklus, in dessen mit derselben Zahl bezeichneten Jahren die Wochentage auf dieselben Monatsdaten fallen. Solche Angaben sind vor allem für die Berechnung des Osterfestes von Bedeutung. Die sich anschließende Seite (Abb. 4) wird nahezu vollständig von einer Zeichnung eingenommen – die Darstellung gibt den Verlauf der Gestirne an vier astrologisch/astronomisch bedeutenden Tagen wieder: Frühlingsäquinoktium (Tagundnachtgleiche), Sommersolstitium (Sonnenwende), Herbstäquinoktium und Wintersolstitium.

Der eigentliche Kalender nimmt sich demgegenüber schlicht aus – in mehreren Spalten finden sich die Tage, Tagesheiligen, der Lauf des Mondes durch den Tierkreis, die zu erwartenden Konstellationen und schließlich in knappen Worten das zu erwartende Wetter. So notiert Hermann etwa für den 16. Februar (Abb. 5), dass der Mars ins Zeichen des Steinbocks trete, weshalb mit „frost“ zu rechnen sei. Tatsächlich boten andere Schreibkalender dieser Zeit noch viel mehr: Prognosen für die richtigen Termine zum Heiraten, Abschluss von Geschäften, Aderlassen oder Haareschneiden etwa. Die den Kalenderblättern gegenüberliegenden Seiten bieten derweil Raum für eigene Notizen.
Hinter dem Kalendarium findet sich die aus drei Kapiteln bestehende „Praktik“. Das erste Kapitel behandelt in knapper Zusammenfassung der vorangegangenen Seiten das „Gewitter“ (Wetter) des Jahres insgesamt, das zweite das Wetter der einzelnen Jahreszeiten und das letzte schließlich die Mond- und Sonnenfinsternisse. Am Ende verbleibt Hermann mit dem Wunsch an den Leser auf ein „glückseliges neweß Jahr, sampt aller wohlfahrt, Amen“. Offensichtlich machte Moritz von dem Manuskript keinen Gebrauch – doch so blieb es uns als Quelle der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte erhalten.
Literatur
- AUFGEBAUER, Peter (2000): „Die Burg Plesse in hessischer Zeit (1571-1660) nach den Schriftquellen“. In: Thomas Moritz (Hg.): Ein feste Burg - die Plesse. Interdisziplinäre Burgenforschung, Bd. 1. Göttingen: Goltze, 99-111.
- GROTEFEND, Hermann (2007): Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. Hannover: Hahnsche Buchhandlung.
- GLASER; Rüdiger (2001): Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Darmstadt: Primus.
- HERRMANN, Joachim (2005): dtv-Atlas Astronomie. München: DTV.
- LENKE, Walter (1960): „Klimadaten von 1621-1650 nach Beobachtungen des Landgrafen IV. von Hessen (Uranophilus Cyriandrus)“. In.: Berichte des Deutschen Wetterdienstes, Nr.63, Bd. 9.
- MATTHÄUS, Klaus (1968): „Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens LXIV, 735-831.
- DERS. (1968): „Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens LXV, 1086-1206.
- MAHLBERG, Horst (2007): Meteorologie und Klimatologie. Eine Einführung. Berlin: Springer.
- WALTHER, Gerrit (2004): „Fürsten, Höfe und Naturwissenschaften in der Frühen Neuzeit. Versuch einer Systematik“. In: Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Schientiae et artes I. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. Wiesbaden: Harrassowitz, 143-160.
Beschreibung
Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel
Signatur: 4°Ms. Hass. 57
Material: Papier (Halbledereinband) (II+33 Seiten; 1r-21v beschrieben)
Maße: 19 × 15 cm
Herkunft: Burg Plesse (Landgrafschaft Hessen-Kassel), 1624/25
Text von Arne Ulrich
© für alle Bilder: Universitätsbibliothek Kassel.