Nr. 24
Zum Lob eines chinesischen Kaisers:
Das Fragment eines tangutischen Manuskripts
Bei der aufwendigen Schrift des hier gezeigten Manuskripts handelt es sich um Tangutisch, eines der nichtchinesischen Schriftsysteme, die im Mittelalter in Nordchina erfunden wurden. Das Fragment einer Übersetzung eines verschollenen chinesischen Textes enthält Dialoge zwischen dem Tang-Kaiser Taizong (reg. 626–649) und seinen fähigen Ministern und belegt – zusammen mit anderen ähnlichen Texten – die weitverbreitete Verehrung Taizongs im Tangutischen Reich. Wenn jedoch das Interesse der Tanguten an der literarischen Tradition Chinas so groß war, warum unternahmen sie dann den Versuch, sich von ihr zu distanzieren, indem sie eine eigene Schrift entwickelten?
Das Manuskript besteht aus einem gefalteten, etwa 22 cm hohen und 13 cm breiten Blatt, das auf beiden Seiten beschrieben ist. Die Seiten waren ursprünglich Teil eines Notizbuchs mit sogenannter Schmetterlingsbindung. Die Löcher am Papierrand stammen vom Heftfaden, mit dem die Blätter zusammengehalten wurden. Während das Manuskript keine Satzzeichen aufweist, deuten zwei Leerstellen – vergleichbar mit dem Beginn eines neuen Absatzes heute ¬– auf Unterteilungen im Text hin. Obwohl die Schrift sehr einheitlich ist und zweifellos aus der Feder eines erfahrenen Kopisten stammt, gibt es sogar in diesem kurzen Fragment zwei Korrekturzeichen. Vermutlich wurden sie vom Kopisten selbst eingefügt, der die beiden Fehler sofort bemerkte, nachdem sie ihm unterlaufen waren.
Das Manuskript wurde von Sir Aurel Stein (1862–1943), besser bekannt durch seinen Ankauf der Dunhuang-Manuskripte, in den Ruinen von Khara Khoto (Innere Mongolei) gefunden. Die ersten Grabungen an der Fundstätte waren von einer Expedition des russischen Forschers Pjotr K. Koslow (1863–1935) durchgeführt worden, der genau hier in den Jahren 1908–1909 eine riesige Bibliothek von Büchern in tangutischer und chinesischer Sprache entdeckte und damit in akademischen Kreisen für eine Sensation sorgte. Stein kam erst 1914 nach Khara Khoto, konnte aber auch dann noch Tausende von Fragmenten bergen, die er mit nach London nahm und dem British Museum zur Verwahrung übergab. Das hier gezeigte tangutische Manuskript ist undatiert und stammt vermutlich aus dem 12. oder frühen 13. Jahrhundert.

Die tangutische Schrift wurde im Jahr 1036 auf Befehl des Tangutenkaisers Li Yuanhao (1003–1048) im Zuge seiner Bemühungen um staatliche Unabhängigkeit erfunden. Man geht davon aus, dass der Hauptgrund für die Entwicklung einer eigenen Schrift darin bestand, eine tangutische Fassung des buddhistischen Kanons erstellen zu können. Darüber hinaus sollte mit der neuen Schrift offensichtlich eine „nationale“ Identität begründet werden, die sich von der des chinesischen Song-Reichs (960–1279) unterschied. Dabei folgten die Tanguten dem Beispiel der benachbarten Kitan, die ein Jahrhundert zuvor zwei verschiedene Schriften entwickelt hatten. Eine von ihnen basierte größtenteils auf der chinesischen Schrift. Die tangutische Schrift leitete sich nicht von der chinesischen ab, war aber sowohl optisch als auch hinsichtlich der Prinzipien, nach denen die Schriftzeichen gebildet wurden, ganz sicher von ihr inspiriert. Während sie also versuchte, anders zu sein als die Schrift der Chinesen, strebte sie gleichzeitig danach, eine gemeinsame Tradition fortzusetzen.
Dieselbe Polarität zeigt sich auch in den erhaltenen Texten aus Khara Khoto. Neben buddhistischen Schriften wurden auch viele andere chinesische Werke übersetzt und in der neu erschaffenen Schrift niedergeschrieben, darunter konfuzianische Klassiker, Enzyklopädien, militärische Abhandlungen und sogar literarische Werke. Das chinesische Schrifttum stellte eindeutig die wichtigste Quelle für tangutische Bücher dar, wenngleich auch Texte aus dem Tibetischen übersetzt oder von vornherein auf Tangutisch verfasst wurden. Das hier gezeigte Manuskriptblatt zählt zu den Übersetzungen weltlicher Texte aus dem Chinesischen. Auf den ersten Blick wirkt es eher unspektakulär, weshalb es vielleicht auch ein Jahrhundert lang unbemerkt in der Stein Collection lag, ohne wissenschaftliches Interesse zu erregen. Eine genauere Lektüre ergibt, dass das Blatt eine Sammlung von (ein bis zwei Sätze langen) Anekdoten aus der chinesischen Vergangenheit enthält, die sich mit Fragen von Moral und schicklichem Verhalten befassen. Die Geschichten entstammen ausnahmslos der chinesischen Tradition und lassen insofern erkennen, dass der tangutische Text eine Übersetzung und kein Originalwerk ist.
Das Manuskript ist vor allem deshalb besonders interessant, weil der Text als Dialog zwischen dem chinesischen Kaiser Taizong und seinen Ministern angelegt ist. Man kennt Beispiele für dieses Format aus der chinesischen Literatur, insbesondere das Zhenguan zhengyao (Grundlagen der Staatskunst aus der Regierungszeit Zhenguan), das Fragen des Kaisers Taizong zur Staatskunst und Antworten mehrerer seiner Minister enthält. Dieser Text war nicht nur in China äußerst populär, sondern auch in anderen Teilen Asiens, vor allem in Japan, wo zahlreiche Manuskripte aus dem 12. Jahrhundert bis heute erhalten sind. Interessanterweise wurde dasselbe Werk auch unter den tangutischen Texten aus Khara Khoto entdeckt, was die Popularität Taizongs als erleuchteter Herrscher im Tangutischen Reich bestätigt. Einen weiteren Text ähnlicher Art bildet ein fragmentarisches Manuskript, das den Titel Taizong zeyao (ausgewählte Grundlagen von Taizong) enthält und ebenfalls aus kurzen, nur wenige Sätze umfassenden chinesischen Geschichten über korrektes Benehmen besteht. Man hat gemutmaßt, dass es sich hierbei um ein Schulbuch handeln könnte, nach dem Kinder schreiben gelernt haben. Der Name Taizong taucht zwar im Manuskript nicht auf, wohl aber im Titel am Textende, was in der Forschung für Verwirrung gesorgt hat. Es ist jedoch möglich, dass dieses Manuskript schlicht einen anderen Ausschnitt des Textes enthält als das hier gezeigte Manuskriptblatt. Die beiden Manuskripte überschneiden sich nicht und weisen geringfügige gestalterische Unterschiede auf. Selbst wenn sie also Teile desselben Textes wären, müssten sie aus verschiedenen Abschriften stammen. Ihr Inhalt aber ist vergleichbar, und der Name des Kaisers Taizong im Titel des einen komplementiert die Erwähnung seines Namen im Haupttext des anderen.

Alles in allem ist dieses Fragment ein faszinierendes Manuskript, das eine tangutische Übersetzung eines im chinesischen Original unbekannten Textes enthält. Zusammen mit anderen tangutischen Texten, die den Kaiser Taizong betreffen, belegt es die weitverbreitete Verehrung Taizongs in der tangutischen Bevölkerung, auch wenn es so aussieht, als hätten die Tanguten ihre eigene Schrift doch zumindest teilweise erfunden, um sich kulturell und politisch von Song-China zu distanzieren. Dass aber ein wesentlicher Teil der tangutischen Texte aus dem Chinesischen übersetzt wurde, weist auf die Bedeutung des chinesischen Erbes für die tangutische Kultur hin. Die Texte, die mit der Verehrung Taizongs in Zusammenhang stehen, sind weitere Beispiele für diese starke Verbindung zur chinesischen Vergangenheit.
Literatur
- GALAMBOS, Imre (im Erscheinen): „A Chinese tract in Tangut translation (Or.12380/2579)“, in: Central Asiatic Journal.
- KYCHANOV, Evgenij I. (2004): „Fragmenty perevoda na tangutskiy (Si Sya) yazyk sochineniya U Tszina Chzhen’guan’ chzhen yao“, in: Istoriografiya i Istochnikovedenie Istorii Stran Azii i Afriki, 22, S. 75–83.
- NIE Hongyin 聶鴻音 (2003): „Xixiaben Zhenguan zhengyao yizheng 西夏本《貞觀政要》譯證“, in: Wenjin xuezhi 文津學誌, 1, S. 116–124.
- NIE Hongyin 聶鴻音 (2012): „Xixiaben Taizong zeyao chutan 西夏本《太宗擇要》初探“, in: Ningxia shifan xueyuan xuebao (Shehui kexue) 寧夏師範學院學報 (社會科學), 4, S. 55–59.
- YINGGUO GUOJIA TUSHUGUAN 英國國家圖書館, SHANGHAI GUJI CHUBANSHE 上海古籍出版社 und XIBEI DI’ER MINZU XUEYUAN 西北第二民族學院 (Hrsg.) (2005): Ying cang Heishuicheng wenxian 英藏黑水城文獻, Bd. 3. Shanghai: Shanghai guji chubanshe 上海古籍出版社.
Beschreibung
The British Library, London
Signatur: Or.12380/2579
Material: Papier, 1 Blatt, beidseitig beschrieben, 8 Zeilen pro Seite mit 17–20 Schriftzeichen pro Zeile
Maße: 22,3 x 13 cm
Herkunft: Khara Khoto (Innere Mongolei), ca. 12. Jahrhundert
Text von Imre Galambos
Bildreproduktionen mit freundlicher Genehmigung von The British Library.
Größere Bilder sind über die Website des IDP (International Dunhuang Project) abrufbar.