Nr. 12
Sex & Crime im alten China – Realität oder Fiktion?
Ein Manuskript aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit gibt Auskunft über die dunklen Seiten des damaligen Lebens: von Diebstahl und Erpressung über Verrat und Unzucht bis hin zu Mord und Totschlag werden Straftaten und ihre Aufklärung in zweiundzwanzig Auszügen aus Prozessakten und historischen Lehrtexten, in denen Justizbeamte die Hauptrolle spielen, beschrieben. Doch das Manuskript wirft Fragen auf. Nicht wenige der Fälle würden guten Stoff für Film- und Fernsehen bieten, und bei einigen fragt der Leser sich: Handelt es sich um Aufzeichnungen, die mit realen Rechtsfällen in Verbindung stehen, oder nur um Fiktion?
Bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hinein war das Rechtssystem des frühen chinesischen Kaiserreichs lediglich bruchstückhaft bekannt. Aufsehenerregende archäologische Funde in den siebziger und achtziger Jahren brachten plötzlich Licht ins Dunkel. Es wurde schnell deutlich, dass das damalige Rechtssystem weit umfangreicher und moderner war, als bis dahin angenommen. Während die in großer Zahl entdeckten Gesetzestexte für Nicht-Juristen wohl ähnlich interessante Lektüre wie heutige Gesetzeswerke darstellen, bietet ein besonderer Manuskriptfund aus dem Grab Nr. 247 von Zhangjiashan (Provinz Hubei) faszinierende Einblicke in konkrete Rechtsfälle und das Alltagsleben zu Beginn der Han-Zeit (206 v. – 220 n. Chr.). Bisher sind keine Paralleltexte bekannt, was das Manuskript zu einem einzigartigen Forschungsgegenstand macht.

Das aus 228 Bambusleisten bestehende Manuskript enthält eine Sammlung von zweiundzwanzig Auszügen aus Prozessakten und historischen Lehrtexten und wurde zusammen mit weiteren mathematischen und medizinischen Manuskripten in das Grab eines niederen, um das Jahr 186 v. Chr. verstorbenen Beamten gelegt, aus dessen Besitz die Manuskripte wahrscheinlich stammen. Obwohl die Schnüre, welche die insgesamt mehr als 1200 in dem Grab entdeckten Bambusleisten einst zu selbständigen Manuskriptrollen verbanden, längst zerfallen waren, ließ sich anhand der Anordnung der Leisten zum Zeitpunkt der archäologischen Grabung noch feststellen, welche Leisten einmal zu derselben Rolle gehört hatten. Bei der Zouyan shu („Der höheren Instanz zur Entscheidung vorgelegte Schriftstücke“, Abb. 1) betitelten Sammlung ist eindeutig klar, dass sie ursprünglich eine Bucheinheit darstellte (Abb. 2).
Das Manuskript führt dem heutigen Leser anschaulich die Modernität des Strafprozesses in der frühen Han-Zeit vor Augen: Auf eine private oder amtliche Anklage hin wurde zunächst der Angeklagte angehört, auch die Aussagen von Zeugen wurden notiert. Legte der Angeklagte kein Geständnis ab, so wurde er im Folgenden mit abweichenden Zeugenaussagen oder dem Wortlaut der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen konfrontiert, bis die Justizbeamten schließlich eine begründete Entscheidung fällen konnten. Die meisten der im Zouyan shu gesammelten Texte spiegeln jedoch insofern keine gewöhnlichen Prozessakten wider, als sie der höheren Instanz zur Entscheidung vorgelegt wurden (daher der Titel des Manuskripts). Dies hatte verschiedene Gründe: Oft bestanden Zweifel am zutreffenden Strafmaß, da es für den konkreten Fall entweder keine passenden Bestimmungen gab oder diesbezüglich Widersprüche bestanden. Die Entscheidung der höheren Instanz ist häufig – aber nicht immer – ebenfalls notiert. In anderen Fällen wurden Prozessakten mit einer am Ende formulierten Bitte um die Beförderung der ermittelnden Beamten verknüpft.

Obwohl sich aus dem Zouyan shu viele wertvolle Erkenntnisse zum damaligen Rechtssystem gewinnen lassen, wirft das Manuskript gleichzeitig Fragen auf, zentral ist die nach der Authentizität der beschriebenen Rechtsfälle. Wo beispielsweise eine Witwe neben dem Sarg ihres just verstorbenen Gatten Unzucht treibt, fragt man sich zuweilen, ob es sich wirklich um die Schilderung eines realen Falles handelt. Auch einige andere Indizien sprechen dafür, dass dies zumindest nicht für alle der 22 Texte gilt. Drei von ihnen weichen in ihren Beschreibungen stark vom üblichen Ablauf des Strafprozesses (Abb. 3) ab, weisen deutliche narrative Züge auf und beziehen sich in zwei Fällen zudem auf bekannte historische Persönlichkeiten aus einer Zeit, die bereits bei der Entstehung des Manuskripts Jahrhunderte zurücklag. In diesen Lehrtexten wird ein Herrscher durch überzeugende Beweisführung eines tugendhaften und berühmten Richters, die meist über die strikte Befolgung der Gesetze hinausgeht, von der Richtigkeit des Urteils überzeugt. In einem Fall wird die Hinrichtung zweier Köche verhindert, die bestraft werden sollen, weil sich ein Haar im Braten des Herrschers, ein Grashalm in der Speise der Herrscherin fand.

Bei dieser also recht heterogenen Sammlung von „Dokumenten“, die ursprünglich einmal zu unterschiedlichen Zwecken angefertigt worden zu sein scheinen (Empfehlungsschreiben, Bitte um Entscheidung durch die höhere Instanz, historische Lehrstücke, etc.), könnte es sich um eine private Kompilation handeln, die vom Grabherrn noch zu Lebzeiten zusammengestellt wurde. Zumindest scheint sie mit seiner Biographie im Zusammenhang zu stehen, denn der jüngste der aufgezeichneten Fälle ist auf das Jahr 196 v. Chr. datiert, genau zwei Jahre bevor der Grabherr laut einem ebenfalls im Grab gefundenen Kalender „wegen Krankheit“ aus dem Amt schied. Die Kompilierung von einerseits fiktiven und andererseits möglicherweise authentischen oder auf authentischen Prozessakten beruhenden Texten in einem Manuskript muss zu einem bestimmten Zweck erfolgt sein und spiegelt wahrscheinlich auch die Sichtweise des Kompilators auf das damalige Rechtssystem wider. Da die Lebenszeit des Grabherrn – das Ende des dritten sowie der Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts – mit der Errichtung des ersten Kaiserreichs und den damit einhergehenden Reformen und sozialen Veränderungen eine Zeit des Umbruchs war, birgt das Zouyan shu möglicherweise auch eine Bewertung dieser historischen – auch die Rechtsprechung betreffenden – Entwicklungen. Um den Motiven, die hinter der Kompilation standen, genauer auf den Grund zu gehen, bedarf es weiterer Forschung, die sich jedoch nicht nur mit dem Manuskript selbst, sondern auch mit dem Kontext, in dem es sich bei seiner Entdeckung befand, auseinandersetzen muss. Dazu gehören vor allem die anderen Manuskripte, die – wohl ebenso wenig zufällig – in das Grab gelegt wurden, aber im weiteren Sinne auch das gesamte Ensemble der Grabbeigaben.
Literatur
- Korolkov, Maxim (2011), „Arguing about Law: Interrogation Procedure under the Qin and Former Han Dynasties”, Études chinoises 30, 37–71.
- Lau, Ulrich (2002), „Die Rekonstruktion des Strafprozesses und die Prinzipien der Strafzumessung zu Beginn der Han-Zeit im Lichte des Zouyanshu“, in Reinhard Emmerich u. Hans Stumpfeldt (Hrsg.), Und folge nun dem, was mein Herz begehrt: Festschrift für Ulrich Unger zum 70. Geburtstag, Hamburger Sinologische Schriften, Hamburg: Ostasien Verlag, 343–395.
- Lau, Ulrich und Michael Lüdke (2012), Exemplarische Rechtsfälle vom Beginn der Han-Dynastie: Eine kommentierte Übersetzung des Zouyanshu aus Zhangjiashan/Provinz Hubei, Tokyo: Research Institute for Languages and Cultures of Asia and Africa, Tokyo University of Foreign Studies.
- Nylan, Michael (2005/6), „Notes on a Case of Illicit Sex from Zhangjiashan: a Translation and Commentary“, Early China 30 (2005-2006), 25–45.
Kurzbeschreibung
Jingzhou Distriktmuseum, Provinz Hubei (VR China)
Herkunft: Grab Nr. 247, Zhangjiashan, Kreis Jiangling, Provinz Hubei (1983/84)
Material: Bambus, 228 Leisten
Abmessungen der Leisten: Länge 286–301 mm, Breite 4–6 mm
Text von Thies Staack
© aller Bilder: Jingzhou Distriktmuseum / Cultural Relics Publishing House