Nr. 08
Ist doch alles Gold, was glänzt?
Unter den Schätzen der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek ist ein Manuskript des Werkes De civitate Dei („Über den Gottesstaat“ bzw. „Über die Stadt Gottes“), das zwischen 412 und 426 vom Kirchenvater Augustinus verfasst wurde. Das Hamburger Manuskript wurde um 1150-70 in der Benediktinerabtei St. Pantaleon in Köln hergestellt. Das Skriptorium dieser Abtei ist vor allem für seine kostbaren liturgischen Manuskripte aus Ottonischer Zeit (10. Jh.) bekannt. In den Miniaturen dieser Manuskripte stellten Goldgründe nicht nur den Reichtum der Stifter zur Schau; das während des Gottesdienstes im Kerzenlicht funkelnde Gold machte auch die Gegenwart des Göttlichen begreifbar. Im Vergleich dazu ist der Augustinus-Codex relativ schlicht. Nur seine Titelseite und zwei auf sie folgende ornamentale Zierseiten sind aufwändiger gestaltet; aber auch sie enthalten keine Bilder, keine kostbaren Pigmente und kein Blattgold. Hat man hier ganz auf das semantische Potenzial nicht nur von Bildern, sondern auch von kostbaren Materialien verzichtet? Oder gelingt es trotzdem, in einer sorgfältig orchestrierten Einleitung in das Werk des Kirchenvaters die Symbolkraft von Gold und edlen Farbstoffen aufzurufen, um Augustinus‘ berühmte Vision der Gottesstadt ins rechte – in ein himmlisches – Licht zu rücken?
Um Haaresbreite ist die Handschrift dem gleichen Schicksal entronnen, welches das Manuskript des Monats Mai 2012 ereilt hat: im Jahr 1704 wurde sie mit zwei anderen Handschriften aus der Abtei auf der Frankfurter Buchmesse, wohl in ihre Lagen oder gar Blätter zerlegt, als Makulatur für Buchbinder angeboten. Gerettet wurden die Manuskripte stattdessen von dem Frankfurter Schöffen und Gelehrten Zacharias Conrad von Uffenbach, aus dessen Sammlung ein bedeutender Teil der heutigen Handschriftenbestände der Staatsbibliothek stammt.
Schlägt man den mittlerweile wieder gebundenen Codex auf, um mit der Lektüre zu beginnen, so sieht man zunächst eine Titelseite (fol. 1r, Abb. 1). In zwölf abwechselnd mit roter und grüner Tinte geschriebenen Zeilen von Zierbuchstaben, die sich, eingefasst in einen Leistenrahmen, klar vom unbemalten Pergamentgrund abheben, wird indes nicht das Traktat selbst angekündigt, sondern ein ihm als Prolog vorgestelltes Zitat aus einem anderen Werk des Augustinus, den Retractationes (Überarbeitungen), in dem er sich retrospektiv zu De civitate Dei äußert. Dieser Prolog beginnt umseitig mit einer Zierseite, die auf bräunlich-dunkelrotem Grund eine Initialligatur, eine Verbindung der Initialen I und N, sowie die ersten Worte präsentiert: „(IN)terea Roma [Gothorum irruptione …eversa est]“ („Inzwischen ist Rom durch den Einfall der Goten … zerstört worden“ (fol. 1v, Abb. 2)). Weitergeführt wird der Prologtext dann auf der gegenüberliegenden Seite (fol. 2r). Augustinus hat sein Werk unter dem Eindruck des Falls des Römischen Reichs geschrieben, der nicht zuletzt auch eine tiefe Krise der römischen Staatsreligion, des Christentums, bedeutete.

Blättert man ein zweites Mal um, so beginnt das eigentliche Traktat, in dem Augustinus sich gegen die Auffassung von Zeitgenossen richtet, die in der Niederlage Roms gleichzeitig das Scheitern des Christentums sahen. Er entwirft mit seiner civitas Dei dagegen ein theologisch und historisch begründetes Modell einer Gemeinschaft von Gläubigen, der Kirche, jenseits jeder weltlich-politischen Topographie. Auch das Traktat beginnt mit einer Zierseite, diesmal mit der Initiale G und den Anfangsworten „(G)loriosissimam civitatem Dei“ („Die allerherrlichste Stadt Gottes“) auf ockerfarbenem Grund (fol. 2v, Abb. 3).
Der Codex aus St. Pantaleon beeindruckt bereits durch sein großzügiges Format und seinen Umfang. Seine buchmalerische Ausstattung ist künstlerisch anspruchsvoll; im Hinblick auf die verwendeten Materialien und Techniken gibt sie sich jedoch bescheiden. Nicht nur wurde kein Blattgold verwendet; bei den mit üppigem Spiralrankenornament gefüllten Initialen auf den Zierseiten und den mit perspektivisch-geometrischem Mäanderband gefüllten Rahmen handelt es sich auch nicht um aufwendige Deckfarbenmalerei mit kostbaren Pigmenten, sondern um Federzeichnungen auf farbig hinterlegtem Grund.

Es ist möglich, dass diese technischen und materiellen Beschränkungen bewusst geschahen. Das zwölfte Jahrhundert war für die nach der Benediktsregel lebenden Klostergemeinschaften eine schwierige Zeit. Sie war geprägt von Reformbestrebungen, die sich auch in einer Rückbesinnung auf das Armutsgelübde äußerten. Manche hielten daher teure Materialien für den Inbegriff dekadenter Weltlichkeit; für andere dagegen waren funkelndes Gold und Edelsteine ein Zeichen der Ehrerbietung und Sinnbilder des Himmelslichts und der Gottesgegenwart. Auch genossen die Werke des Augustinus zwar großen Respekt, nicht aber natürlich dieselbe Ehrerbietung wie die Worte der göttlichen Offenbarung in den goldenen Evangeliaren der Ottonen.

Im Kölner Codex ist die Farbpalette im Wesentlichen auf einige unvermischt nebeneinander gesetzte Farben reduziert: rot und schwarz, die auch für die Zeichnungen verwendet wurden, dazu grün, blau und helles Ocker. Diese Farben werden auch für die zahlreichen kleineren Initialen weiter hinten im Codex verwendet. Lediglich die Farbgründe der Zierseiten, auf denen die Initialen erscheinen, fallen deutlich aus der sonst im Manuskript verwendeten Palette heraus. Es sind keine beliebigen Farbtöne: Das dunkle Rot, das die Initialligatur am Prologbeginn umgibt (Abb. 2), muss einen mittelalterlichen Leser sofort an Purpur erinnert haben, jenen kostbaren Farbstoff, der Kaisern und Königen sowie, in Darstellungen und an liturgischen Gegenständen, Christus vorbehalten war. Der ockerfarbene Grund der Seite am Beginn des Traktats selbst wird in der wissenschaftlichen Literatur mitunter als vergoldet beschrieben; bei genauem Hinsehen finden sich aber keinerlei Goldpartikel auf seiner Oberfläche. Diese ist allerdings nicht matt wie der Rest des bemalten und beschriebenen Pergaments in der Handschrift, sondern wachsartig glatt und auf Hochglanz poliert und wird darum nicht nur bei den Schreibern moderner Ausstellungskataloge die Assoziation mit Gold hervorgerufen haben. Materiell sind Purpur und Gold in diesem Manuskript nicht verwendet worden; dadurch aber, dass Farbigkeit und Oberflächenbeschaffenheit der Seiten diese kostbaren Materialien evozieren, werden hier deren semantischen Dimensionen dennoch aufgerufen: Kaisertum und (göttliches) Licht. Wenn der Leser die Seiten wendet, legt sich über die „purpurne“ Seite, auf der der Name der alten Kaiserstadt Rom geschrieben ist, die „goldene“ Seite, die die „allerherrlichste Stadt Gottes“ proklamiert. Diese sorgfältig orchestrierte Einleitung in das Werk setzt damit einen Leitgedanken von De civitate Dei anschaulich um: Beim Umblättern wird das alte, topographisch-politisch definierte Zentrum der christlichen Religion symbolisch abgelöst durch das universale Gottesreich.
Literatur
- Brandis, Tilo (1972): Die Codices in scrinio der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Hamburg, 33-34.
- Dickmann, Ines (1998): Blicke in verborgene Schatzkammern: mittelalterliche Handschriften und Miniaturen aus Hamburger Sammlungen; eine Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, 26. Juni - 26. Juli 1998, Kat.-Nr. 6, 24f.
- Legner, Anton (Hrsg.) (1985): Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln. Katalog zur Ausstellung des Schütgen-Museums in der Joseph-Haubrich-Kunsthalle, Bd. 2, Köln, 291.
- Schmitz, Wolfgang (1985): „Die mittelalterliche Bibliotheksgeschichte Kölns“, in: Anton Legner (Hrsg.), Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln. Katalog zur Ausstellung des Schütgen-Museums in der Joseph-Haubrich-Kunsthalle, Bd. 2, Köln, 137-148.
- Stork, Hans-Walter (2005): „Handschriften aus dem Kölner Pantaleonskloster in Hamburg. Beobachtungen zu Text und künstlerischer Ausstattung“, in: H. Finger (Hrsg.), Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek (Erstes Symposion der Diözesan- und Dombibliothek Köln zu den Dom-Manuskripten), Köln, 259-285.
Kurzbeschreibung
Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek,
Signatur: Cod. in scrin. 5
Herkunft: Köln, um 1150-70
Material: Pergament, 229 Blätter, moderne Foliierung und Nummerierung der Textspalten (zweisp. Seitenlayout); drei Zierseiten am Codexanfang, 21 kleinere, mit der Feder gezeichnete und farbig hinterlegte Spaltleisteninitialen an den weiteren Buchanfängen; den Büchern jeweils vorgestellte Capitula, deren Anfänge im Text jeweils durch ausgerückte rote Initialmajuskeln gekennzeichnet und mit roten römischen Zahlen nummeriert sind; zeitgenössische marginale Annotationen, die größtenteils die Funktion von Rubriken und Zwischentiteln haben; einige spätere Annotationen.
Maße: 43 × 32 cm
Text von Hanna Wimmer
© aller Bilder: Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg