Nr. 64
Sterne und Schildkröten
Eine buddhistische Schriftrolle zum Wahrsagen
Manuskripte können auf einzigartige Weise einen Einblick in die Praxis religiöser Traditionen geben. Bei buddhistischen Mönchen oder Nonnen denken wir in der Regel zuerst ans Meditieren, aber sie haben sich stets auch anderen Tätigkeiten gewidmet. Dazu gehörten neben regelmäßigem Beten und der täglichen Routine des Klosterlebens auch Dienstleistungen für die Laiengemeinde außerhalb des Klosters. Zu diesem Zweck spezialisierten sich manche buddhistischen Mönche und Nonnen auf Medizin, Wahrsagung und magische Praktiken, die Wohlstand bringen und Unheil abwenden sollten. Handschriften wie die Schriftrolle, die ich hier vorstellen werde, zeigen, welche Arten von Diensten sie anboten.
Die Rolle gehört zu einer Sammlung, die in einer verschlossenen Grotte in Dunhuang im chinesischen Teil Zentralasiens gefunden wurde. Die Grotte war Anfang des 11. Jahrhunderts zugemauert und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt worden. Die ursprüngliche Sammlung ist heute auf viele verschiedene Institutionen weltweit verteilt. Die Rolle mit der Signatur Or.8210/S.6878 gehört zu der Sammlung der British Library von Manuskripten aus Dunhuang. Sie ist 25 cm hoch und 411 cm lang und besteht aus zusammengeklebten Blättern. Ihr Ende ist mit einem runden Holzstab zum Aufrollen verbunden (Abb. 1), und obwohl das erste Blatt beschädigt ist, ist ihr Zustand generell recht gut. Im Papier sind Linien zu erkennen, die darauf hindeuten, dass es mit einem Bambussieb geschöpft wurde.
Die Vorderseite der Schriftrolle ist mit chinesischen Schriftzeichen in vertikalen Spalten beschrieben, die von rechts nach links gelesen werden. Es handelt sich um das Sutra der vollkommenen Weisheit, einen Schlüsseltext des Buddhismus (Abb. 1). Zu einem späteren Zeitpunkt wurde die Rolle wiederverwendet und auf der Rückseite mit einem Text ganz anderer Art beschrieben. Hier sehen wir eine Reihe von Diagrammen mit Texten in tibetischer Sprache. Diese Art der Wiederverwendung von Schriftrollen war in Dunhuang nicht ungewöhnlich und es gibt viele Beispiele, bei denen die Sprache auf der Rückseite eine andere als die auf der Vorderseite ist, was die multikulturelle und vielsprachige Gesellschaft im chinesischen Zentralasien widerspiegelt.

Als die Schriftrolle Anfang des 20. Jahrhunderts im British Museum katalogisiert wurde, wurde sie den chinesischen Handschriften zugeordnet, was dazu führte, dass der tibetische Text und die Diagramme beinahe ein Jahrhundert lang unbeachtet blieben. Sie müssen noch gründlich untersucht werden, weshalb wir hier nur zwei Beispiele der dort beschriebenen Wahrsagepraktiken betrachten wollen. Die erste trägt die Überschrift „Gute und schlechte Tage für den Beginn einer Reise vorhersagen“ und beginnt folgendermaßen:
Wenn der Tag in das „Himmelstor“ fällt: falls du eine lange Reise antrittst, wird diese gut und glücklich verlaufen.
Betrachtet man nun das entsprechende Diagramm (Abb. 2), so ist das „Himmelstor“ (gnam gyi sgo) das untere Segment des Quadranten links unten. Darin ist zu lesen: „der 1. Tag, der 9. Tag, der 10. Tag, der 17. Tag und der 25. Tag“. Auf diese Weise ist der Himmel basierend auf dem Tag des Mondmonats in acht Teile aufgeteilt.
Es gibt auch schlechte Tage. Das nächste Ergebnis lautet in Entsprechung zu dem unteren Segment des Quadranten rechts unten:
Wenn der Tag in die „Himmelskreuzung“ fällt: du wirst einen großen Verlust erleiden, wo auch immer du hingehst – sehr schlecht.
Das mit „Verlust“ (god ka) übersetzte Wort bezieht sich in der Regel auf einen finanziellen Verlust. Der Hauptzweck dieser astrologischen Berechnung bestand also vermutlich darin, den möglichen Erfolg einer Geschäftsreise auszuloten. Reisende Kaufleute (keine Seltenheit auf der Seidenstraße) baten vermutlich einen Astrologen (wahrscheinlich einen buddhistischen Mönch), die besten Tage für ihre Abreise zu bestimmen.
Die andere Wahrsagepraktik ist am Ende der Schriftrolle beschrieben und heißt „die Wahrsagung der goldenen Schildkröte“ und dient dem Wiederfinden eines verlorenen Gegenstandes. Die Anweisungen stehen unter der Zeichnung des Tieres (Abb. 3), dem der Panzer zu fehlen scheint. Alle Gliedmaßen der Schildkröte sind beschriftet: Kopf, Ohr, Arm, Achselhöhle, Fuß und Schwanz (mit Ausnahme der ersten und letzten Beschriftung sind sie rechts und links gespiegelt).

Die Anweisungen selbst sind ziemlich eindeutig: Zähle die Anzahl der Mondtage ab dem Tag, an dem du den Gegenstand verloren hast, zähle damit die Gliedmaßen der Schildkröte ab. Die gesuchte Antwort erhältst du von dem Körperteil der Schildkröte, bei dem du am Ende landest. Wenn du den Gegenstand innerhalb von 30 Tage verloren hast, beginne am Kopf und gehe im Uhrzeigersinn weiter. Sind es mehr als 30 Tage, beginne am unteren Ende und gehe gegen den Uhrzeigersinn. Auf diese Weise kommst du an einem Körperteil der Schildkröte an, der dem Tag entspricht, an dem du den Gegenstand verloren hast, und du kannst die entsprechende Antwort ablesen:
- Ging der Gegenstand am Mondtag des Kopfes verloren, findest du ihn dort, wo Wäsche gewaschen wird.
- Ging er am Mondtag der Ohren verloren, wäre es nicht gut für dich, ihn an dich zu nehmen, selbst wenn du ihn bei deiner Suche zufällig findest.
- Ging er am Mondtag der Arme verloren, findest du ihn, wenn du auf einem hohen Berg, in einer Schlucht oder mitten auf einem Friedhof nach ihm suchst.
- Ging er am Mondtag der Achsel verloren, findest du ihn, wenn du ihn bei einem Goldschmied, in einer Wassermühle oder im Ortszentrum suchst.
- Ging er am Mondtag der Füße verloren, findest du ihn, wenn du an den königlichen Toren, beim Ministeramt oder am Versammlungsplatz nach ihm suchst.
- Ging er am Mondtag des Schwanzes verloren, findest du ihn, wenn du bei deiner Freundin zu Hause suchst.
Wir wissen zwar nicht mit Sicherheit, wer diese Handschrift verfasst und wer die Weissagungen gemacht hat, aber sie entstammt einem buddhistischen Kontext und wurde wahrscheinlich von buddhistischen Ordensmitgliedern verwendet. Die Ergebnisse der Weissagung richten sich jedoch an die Bedürfnisse und die Lebensweise von Laien. Und somit bieten uns die Weissagungspraktiken dieser Handschrift einen Einblick, wie buddhistische Mönche und Nonnen mit ihren Laien-gemeinden interagierten indem sie ihnen wie in diesem Beispiel Weissagungsdienste boten, die Teil ihres Alltagslebens waren.
Literatur
- CORNU, Phillipe (2002): Tibetan Astrology. Boston: Shambhala.
- IWAO Kazushi, Sam VAN SCHAIK and Tsuguhito TAKEUCHI (2012): Old Tibetan Texts in the Stein Collection Or.8210. Tokyo: Toyo Bunko.
- KALINOWSKI, Marc (Hg.) (2003): Divination et Société dans la Chine Médiévale. Étude des Manuscrits de Dunhuang de la Bibliothèque Nationale de France et de la British Library. Paris: Bibliothèque Nationale de France.
- LOEWE, Michael (1994): Divination, Mythology and Monarchy in Han China. Cambridge: Cambridge University Press.
Beschreibung
Aufbewahrungsort: British Library
Signatur: Or.8210/S.6878
Material: Papier
Maße: Schriftrolle, 25 cm × 411 cm
Herkunft: Dunhuang, chinesisches Zentralasien, 11. Jahrhundert oder früher
Zitationshinweis
Sam van Schaik, „Sterne und Schildkröten“
In: Wiebke Beyer, Zhenzhen Lu (Hg.): Manuscript des Monats 2017.04, SFB 950: Hamburg,
http://www.csmc.uni-hamburg.de/publications/mom/64-de.html
Text von Sam van Schaik
© für alle Bilder: British Library