Nr. 58
„Die Vortrefflichkeit eines so edlen, so weisen …“ –
Ein Lobpreis aus dem 16. Jahrhundert
Sicherlich freuen sich Forscher, wenn sie neue und wichtige Erkenntnisse für ihre Arbeit gewinnen. Wenn sie durch eine Spur aber in ein völlig anderes Feld geführt werden, kann das ebenfalls spannend sein, wie das Beispiel des Koranmanuskripts mit der Signatur Thurston 36 zeigt. Bei der Untersuchung dieser sehr kleinen Koranhandschrift aus den Bodleian Libraries in Oxford fielen zwei Wissenschaftlern des Sonderforschungsbereichs Manuskriptkulturen drei Seiten mit zeilenförmig angeordneten Symbolen – offensichtlich eine Schrift – auf. Dass sie hinter das Geheimnis dieser Schrift kommen wollten, stand für die beiden außer Frage. Doch wohin würden sie diese rätselhaften Zeilen führen?
Bei dem Manuskript handelt es sich um eine kleinformatige arabische Handschrift (ca. 9x10 cm) aus den Bodleian Libraries in Oxford. Der Zeilenabstand der winzigen Schrift beträgt etwa anderthalb Millimeter (Abb. 1), deshalb passt der gesamte Korantext auf nur 73 Blatt. Andere Miniaturkorane, die Berichten zufolge wie Amulette am Körper getragen wurden, sind zwar mit Kantenlängen bis zu 3,5 cm oft noch viel kleiner, können die hier verwendete Schriftgröße und den Zeilenabstand aber nur selten unterbieten. Die verwendete Schriftart gehört zur Familie der Maghribi-Schriften, die für Handschriften aus islamisch geprägten Gebieten westlich von Ägypten typisch sind. Eine genauere Eingrenzung ist schwierig, jedoch deuten die etwas eckigen Buchstaben des Oxforder Korans auf eine Herkunft aus Andalusien hin, wo sich bis 1492 muslimische Herrscherdynastien halten konnten.

Einen weiteren Hinweis bieten die für diese Gegend typischen roten und grünen Vokalzeichen, die die schwarze überwiegend konsonantische Schrift präzisieren. Das Manuskript macht einen unvollendeten Eindruck, da einige Surenüberschriften zwar vorgezeichnet sind, aber weder ausgemalt noch vergoldet wurden (Abb. 1). Geschrieben wurde auf europäischem Papier, das in Spanien und Nordafrika erst im 15. Jh. Pergament als Beschreibstoff für hochwertige Handschriften wie z. B. Korane ablöste. Demnach kann die Handschrift nicht vorher entstanden sein. Erwähnenswert, obwohl für nahöstliche Manuskripte in europäischen Bibliotheken nicht ungewöhnlich, ist der schlichte europäische Ledereinband, der das vermutlich beschädigte oder unansehnliche Original ersetzte.
Für den Miniaturkoranforscher wäre damit die Angelegenheit im Normalfall erledigt, doch vor dem Korantext finden sich drei Seiten voller mysteriöser Schriftzeichen, die nicht zum Rest der Handschrift passen (Abb. 2). Die meisten dieser Zeichen bestehen aus einem Kreis mit bis zu drei rundherum angeordneten Punkten bzw. Strichen. Die Gruppierung dieser Symbole erweckt den Anschein von Worten und lässt unwillkürlich an eine verschlüsselte Botschaft denken. Geheimschriften sind in arabischen Manuskripten zwar selten, aber nicht unüblich. In alchemistischen oder magischen Texten finden sich verschlüsselte Rezepte, die dadurch dem Zugriff eines uneingeweihten Lesers entzogen waren, und auch einige religiöse Minderheiten verbargen einige ihrer Glaubensinhalte durch Kryptogramme.
Der im 9. Jh. lebende arabische Gelehrte Yaʽqūb b. Isḥāq al-Kindī berichtet von verschiedenen Verschlüsselungsverfahren für arabische Texte. Die einfachste war, jeden Buchstaben im Alphabet des Klartextes durch ein anderes Zeichen – ein Symbol, eine Zahl, einen anderen Buchstaben etc. – zu ersetzen. Die so entstehenden Geheimtexte lassen sich entschlüsseln, indem man die Häufigkeit der verwendeten Zeichen ermittelt und dann mit der Buchstabenhäufigkeit in der mutmaßlichen Sprache abgleicht. Al-Kindī nennt als die häufigsten Buchstaben im Arabischen seiner Zeit – in absteigender Reihenfolge – alif, lām, mīm, hāʾ, wāw und yāʾ. Die ersten beiden kommen fast gleich häufig vor und werden zum Schreiben des Artikels „al-“ verwendet. Man kann also erwarten, die mit ihnen korrespondierenden Symbole in verschlüsselten Texten häufig zusammen und am Wortanfang zu sehen. Ein Blick in die Zeichenhäufigkeit des vorliegenden Geheimtextes offenbart jedoch etwas Anderes. Das häufigste Zeichen – ein Kreis mit zwei Punkten darüber, wie bei einem ö – kommt mehr als doppelt so oft vor wie das zweithäufigste; und beide stehen nur selten nebeneinander. Daraus ließ sich schließen, dass der Text nicht arabisch sein kann.
Da das Manuskript in Großbritannien aufbewahrt wird, war es naheliegend, als nächstes von einem englischsprachigen Text auszugehen. Dort ist der häufigste Buchstabe E, gefolgt von T und A. Nachdem das meistverwendete Symbol des Geheimtextes durch E ersetzt wurde, trat mehrfach die gleiche Zeichenkombination hervor, bei der E der letzte von drei Buchstaben sein musste. Hierbei handelte es sich wahrscheinlich um den Artikel “the”, das häufigste Wort im Englischen; und somit waren zwei weitere Buchstaben identifiziert. Ein Wort mit der Zeichenfolge TH_T bedeutete vermutlich “that”, was ein weiteres entschlüsseltes Zeichen lieferte. Auf diese Weise arbeiteten sich die zwei Manuskriptforscher durch den rätselhaften Text, um schließlich eine große Überraschung zu erleben.
Der nun lesbare Text entpuppte sich als eine Lobrede auf mehrere Persönlichkeiten des frühneuzeitlichen Englands. Als erster wird der Gelehrte Thomas More genannt, der als edel („noble“), weise („wise“) und tugendhaft („verteus“) beschrieben wird. Der Text fährt fort, dass More im 22. Regierungsjahr Heinrichs VIII. Lordkanzler gewesen sei. Zudem finden auch seine Töchter lobende Erwähnung: Margaret, Bes und Cecile, die hervorragende Latein- Griechisch- und Hebräischkenntnisse besäßen. Vor allem Margaret (die damals schon den Nachnamen ihres Mannes William Roper angenommen hatte) sei der „Stern“ unter ihnen: die edelste, die auf dieser Welt je gelebt habe, was sowohl ihre Schönheit, als auch ihre Bildung anbelange. Zuletzt bezeichnet sich der anonyme Autor der Zeilen noch als ihr ergebener Diener, bevor er mit der Jahreszahl 1531 schließt – die tatsächlich dem 22. Regierungsjahr Heinrichs VIII. entspricht.
Die meisten Informationen des Geheimtextes stimmen mit dem überein, was über die erwähnten Personen bekannt ist. Thomas More (1478–1535) war ein geachteter Humanist und lange Zeit Vertrauter des Königs, bis er sich gegen dessen Heiratspläne mit Anne Boleyn und das dadurch drohende Zerwürfnis mit dem Papst stellte. Zunächst trat er 1532 als Lordkanzler zurück, doch weil er auf seiner Position beharrte, wurde er 1534 verhaftet und ein Jahr später enthauptet. Es war seine älteste und ihm am nächsten stehende Tochter Margaret, die vier Wochen danach den auf der London Bridge aufgespießten Kopf ihres Vaters gegen Zahlung eines Bestechungsgeldes an sich nahm. Die im Geheimtext angedeutete exzellente und für die Zeit ungewöhnliche Bildung der More’schen Kinder und Mündel ist ebenfalls nachweisbar. So gilt Margaret Roper, die mehrere Bücher verfasste und übersetzte, als eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit.
Da Thomas More 1531 noch in der Gunst des Königs stand, ist es unwahrscheinlich, dass der Text aus tagespolitischen Gründen verschlüsselt wurde. Es könnte dagegen daran gelegen haben, dass der Besitz eines Korans verboten oder wenigstens anrüchig war. Am wahrscheinlichsten aber ist, dass es sich bei der chiffrierten Botschaft um eine intellektuelle Spielerei handelt. Kryptografie erfreute sich im frühneuzeitlichen England nicht nur bei Politikern, Spionen und religiösen Minderheiten großer Beliebtheit, sondern wurde auch innerhalb von Familien und dort sogar von Kindern eingesetzt. Thomas More selbst hatte für seinen philosophischen Roman “Utopia” eine eigene Sprache samt Schrift erfunden. Es lässt sich bisher leider nicht sagen, wer aus dem Umfeld Thomas Mores und Margaret Ropers die chiffrierten Zeilen verfasst hat. Die ersten gesicherten Informationen zur Handschrift stammen aus einem teils handschriftlichen Oxforder Bibliothekskatalog von 1605. Ein Jahr zuvor hatte der aus einer Diplomatendynastie stammende Henry Wotton das Manuskript der neu gegründeten Bibliothek Thomas Bodleys vermacht. Es ist denkbar, dass einer seiner Vorfahren direkt oder indirekt mit den Mores zu tun hatte und so in den Besitz der Handschrift kam. Auf welchen Wegen sie zuvor aus dem Westen der islamisch geprägten Gebiete nach England gekommen war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.
Und so verhält es sich mit dem kleinen Koran und seiner dreiseitigen verschlüsselten Lobpreisung wie mit einem guten Rätsel: Auch wenn das erste und offensichtlichste Rätsel, die Geheimschrift, gelöst werden konnte, so wirft sie doch vor allem viele neue Fragen auf, die vorerst unbeantwortet bleiben.
Literatur
- BERTHOLD, Cornelius; COLINI, Claudia: “The most noble of any that ever lived in this world”: An encrypted text praising Thomas More’s daughter Margaret contained in a miniature Quran from the Bodleian Library (in Vorbereitung).
- DAYBELL, James (2012): The Material Letter in Early Modern England. Manuscript Letters and the Culture and Practices of Letter-Writing 1512–1635. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
- McCUTCHEON, Elizabeth (2015): The education of Thomas More's daughters. Concepts and praxis. In: Moreana, Liber Amicorum – Special Elizabeth McCutcheon, 52, Nr. 201–202, 249–268.
- MRAYATI, Mohammed et al. (Hgg.) (2002): al-Kindi’s Treatise on Cryptanalysis (The Arabic Origins of Cryptology, Bd. 1) , ins Englische übersetzt von Said M. al-Asaad, Damaskus: King Faisal Center for Research and Islamic Studies Center & King Abdulaziz City for Science and Technology (ursprünglich Damaskus 1987).
- REYNOLDS, E. E. (1960): Margaret Roper. Eldest Daughter of St. Thomas More, New York: P. J. Kenedy & Sons.
- WAKEFIELD, Colin (1994): „Arabic Manuscripts in the Bodleian Library. The Seventeenth-Century Collections.” In: Russel, G. A. (Hg.): The ‘Arabick’ Interest of the Natural Philosophers in Seventeenth-Century England. Brill’s Studies in Intellectual History, 47, Leiden/New York/Köln: E. J. Brill, 128–146.
Beschreibung
Oxford, Bodleian Libraries, Weston Library
Signatur: Thurston 36
Material: Europäisches Papier, europäischer Ledereinband
Maße: 9 x 10 cm
Herkunft: Nordafrika oder Südspanien, spätestens seit 1531 in England
Zitationshinweis
Cornelius Berthold und Claudia Colini, „Die Vortrefflichkeit eines so edlen, so weisen …“
In: Wiebke Beyer, Zhenzhen Lu (Hg.): Manuscript des Monats 2016.10, SFB 950: Hamburg,
http://www.csmc.uni-hamburg.de/publications/mom/58-de.html
Text von Cornelius Berthold and Claudia Colini
© für alle Bilder, außer der Transkription: Bodleian Libraries