Nr. 56
Von Stein auf Papier
Eine Handschrift über antike Inschriften als Beginn der Epigraphik im modernen Siam
Spektakuläre epigraphische Entdeckungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weckten das Interesse von Mitgliedern der siamesischen Oberschicht an alten Steininschriften. Nachdem die Artefakte mit den Inschriften aus den Provinzen zur sicheren Lagerung in die Hauptstadt Bangkok gebracht worden waren, begann eine kleine Gruppe traditioneller Gelehrter, sie zu entziffern, um mehr über die Geschichte zu erfahren. Ein siamesisches Manuskript aus dem späten 19. Jahrhundert mit verschiedenen alten Inschriften aus Indien und Südostasien dokumentiert diese Arbeit.
Bei dem Manuskript aus der Unterabteilung für illustrierte Handschriften der Nationalbibliothek Thailands handelt es sich um eine Khoi-Handschrift in Form eines Leporellos, einem der traditionellen Formate für die Überlieferung von Literatur und säkularem Wissen. Das sieben Meter lange Stück Papier aus Khoi-Baum-Rinde wurde mit Ruß geschwärzt und anschließend gefaltet. Die gelbe, aus einem rötlichen Mineral namens Realgar (Rubinschwefel) hergestellte Tusche setzt sich hell von dem schwarzen Hintergrund ab und ist dadurch sehr gut lesbar. Die Schriftrichtung ist horizontal, aber im Gegensatz zu den meisten Manuskripten, bei denen in der Regel jede Seite mit vier oder fünf Zeilen beschrieben ist, finden sich hier auf jeder Seite nur zwei Zeilen mit relativ großer Schrift. Dies erleichtert es Forschern, das kopierte Material genau zu prüfen.
Laut Nationalbibliothek gehörte das Manuskript ursprünglich dem Prinz-Patriarchen Pawaret Wariyalongkorn (1809–1892), der den größten Teil seines Lebens im Kloster Bawonniwet in Bangkok verbrachte. Während dieser langen Zeit hatte Prinz Pawaret Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen mit weiteren Mitgliedern der siamesischen Oberschicht begonnen, Inschriften in Altthai und Altkhmer zu entziffern, um die Geschichte der Siamesen zu erforschen; er wurde somit zu einem der ersten Gelehrten für Thai-Epigraphik. Es ist also gut möglich, dass der Prinz selbst die in dem Manuskript zusammengestellten epigraphischen Texte gesammelt hat. Demnach wurde das Manuskript vermutlich nach der ersten Entdeckung thailändischer Inschriften 1833, jedoch vor dem Tod des Prinzen im Jahr 1892 hergestellt.
Dieses Manuskript ist im Vergleich zu verschiedenen anderen in Thailand erhaltenen Handbüchern über Schriften außergewöhnlich, da es Inschriftentexte in einer Vielzahl von Sprachen und Schriften enthält – genau genommen sieben Sprachen (z. B. Pali, Sanskrit und Altkhmer) in zehn verschiedenen Schriften (Pallava Grantha, Altkhmer, Altthai und sieben weitere). Als das Manuskript geschrieben wurde, waren moderne Techniken wie Abklatsch und Fotografie, die heute in der Epigraphik verwendet werden, in Siam entweder unbekannt oder selten angewandt. Stattdessen schrieb man Inschriften dieser Art per Hand ab. Wie auf Abbildung 2 zu sehen ist, wurden die in dem Manuskript enthaltenen Texte anscheinend in Nachahmung der Schrift auf den Steinen kopiert (wenn auch nicht immer perfekt).
Manche Inschriften wurden ohne weitere Erklärung kopiert und gesammelt, während andere mit Alphabet und grundlegenden orthographischen Regeln präsentiert wurden (Abb. 3). In bestimmten Fällen wurden zusätzlich Anmerkungen über die Herkunft der Inschriften in Thai gegeben (Abb. 2), die im Stil des königlichen Hofes des 19. Jahrhunderts geschrieben sind. Diese Anmerkungen scheinen alle von derselben Person hinzugefügt worden zu sein, eventuell dem Schreiber und Kopisten dieser Inschriften.
Die gesammelten alten Schriften und Sprachen stammen aus Indien und Südostasien und decken einen Zeitraum von mehr als anderthalb Jahrtausenden ab, vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 13. Jahrhundert n. Chr. Es wurde zum Beispiel eine Textpassage aus einer auf das Jahr 1025 datierten Altkhmer-Inschrift des Khmer-Königreichs von Angkor (Abb. 1) kopiert, ebenso aber auch eine Passage einer der Inschriften von König Ashoka (3. Jahrhundert v. Chr.) in Indien (Abb. 3). Verschiedene, in der altindischen Sprache Pali verfasste und in Pallava Grantha, der ältesten Schrift des alten Südostasiens (6. Jahrhundert n. Chr.), geschriebene Inschriften sind in dem Manuskript zu finden (Abb. 2), ferner das Altthai-Alphabet, der ältesten bekannten Inschrift aus dem Königreich Sukhothai (13. Jahrhundert n. Chr.) zusammen mit Anmerkungen über ein paar obsolete Rechtschreibregeln.
Die Inhalte der Inschriften reichen von königlichen Edikten bis zu Zitaten aus dem buddhistischen Kanon. Nur sehr wenige kurze Texte wurden komplett kopiert. Bei den meisten handelt es sich um relativ kurze Auszüge aus viel umfangreicheren Inschriften, die teilweise mitten in einem Abschnitt aufhören. Dies deutet darauf hin, dass das Hauptaugenmerk nicht auf dem Inhalt lag, sondern auf den Schriften selbst. Zusätzlich zu den alten Schriften verzeichnet das Manuskript auch zwei moderne indische Schriften, Tamil (Abb. 4) und Devanagari. Diese Schriften waren den Siamesen im 19. Jahrhundert vielleicht bekannt, wurden jedoch zu der Zeit vermutlich noch als fremd empfunden. Kenntnisse dieser Schriften waren in der traditionellen siamesischen Bildung anscheinend nicht sehr verbreitet, denn sie werden in keinem anderen traditionellen Werk über Schriften erwähnt.
Für die Zusammenstellung der Inschriften für dieses Manuskript wurden sowohl Originalinschriften als auch gedruckte Bücher als Quellen verwendet. Die meisten, insbesondere die in älteren Schriften, wurden von den originalen Inschriftenträgern kopiert. Quellen für alte Schriften aus Indien waren anscheinend gedruckte Bücher über Epigraphik, die aus Indien nach Siam importiert worden waren. Informationen hierzu werden auch in manchen der Anmerkungen in dem Manuskript gegeben – ein Beispiel für eine indische Inschrift wurde etwa aus einem gedruckten Buch, das aus Kalkutta nach Siam gebracht wurde, kopiert.
Die Zusammenstellung der epigraphischen Beispiele wie Textauszüge, Alphabete und kurzen Anmerkungen lässt darauf schließen, dass dieses Manuskript zum Studieren und Erlernen dieser alten, fremden Schriften diente. Sie wurde wahrscheinlich von ihrem Besitzer als epigraphisches Nachschlagewerk und Handbuch zum Lernen – und vielleicht Lehren – benutzt. Bei seinem Versuch, das in diesem Manuskript aufgeführte epigraphische Wissen zusammenzutragen, handelt es sich nicht um ein systematisch organisiertes Handbuch mit einer vollständigen Erklärung und Übersetzung der Inschriften zum Selbststudium, dennoch geht es den ersten im 20. Jahrhundert von westlichen Wissenschaftlern verfassten Werken über Epigraphik voraus.
Die Texte von Inschriften in einem Papiermanuskript spiegeln ein neues Interesse der Siamesen an alten Schriftsystemen im 19. Jahrhundert wider und stellen den Versuch dar, epigraphisches Wissen in Gestalt eines traditionellen Handbuch-Manuskripts zu organisieren. Obwohl manche der epigraphischen Texte nicht ganz originalgetreu kopiert wurden, stellt das Handbuch den ersten ernsthaften Versuch dar, ein Korpus modernen Wissens über altere Schriften zu erstellen, das heute als Epigraphik und Paläographie bezeichnet wird. Das Manuskript wurde so zum ältesten Handbuch über Epigraphik, das bis heute in Thailand gefunden wurde.
Literatur
- CŒDÈS, George (1968): The Indianized States of Southeast Asia. Honolulu: University of Hawaii Press.
- DANI, Ahmad Hasan (1963): Indian Palaeography. Oxford: Clarendon Press.
- NATIONAL LIBRARY OF THAILAND (1986): Carük nai prathet thai lem 1 [จารึกในประเทศไทย เล่ม ๑/ Inscriptions in Thailand, Volume I]. Bangkok: National Library of Thailand.
- SALOMON, Richard (1998): Indian Epigraphy: A Guide to the Study of Inscriptions in Sanskrit, Prakrit, and the Other Indo-Aryan Languages. New Delhi: Munshiram Manoharlal.
Beschreibung
Nationalbibliothek Thailand (Bangkok)
Signatur: MS Nr. 186 „Baep aksòn tang tang“ („Handbuch über verschiedene Schriften“)
Unterabteilung für illustrierte Handschriften, Abschnitt für säkulare Handbücher, Handschriftensammlung
Material: geschwärztes Khoi-Papier
Format: Leporello
Maße: 36,5 × 12 × 4,5 cm
Herkunft: ca. 1833–1890, Bangkok, Siam (Thailand)
Zitationshinweis
Peera Panarut, “Von Stein auf Papier“
In: Wiebke Beyer (Hg.): Manuskript des Monats 2016.08, SFB 950: Hamburg,
http://www.csmc.uni-hamburg.de/publications/mom/56-de.html
Text vonPeera Panarut
© für alle Abbildungen: The National Library of Thailand