Nr. 41
Die Vögel fliegen aus!
Ein Buch über die spirituelle Reise wird zu einem reisenden Buch
Die spirituelle Reise einer Gruppe von Vögeln zu Gott stellt das zentrale Thema des Gedichtes Vogelgespräche (Manṭiq at-Ṭayr) dar, das Farīd ad-Dīn ʿAṭṭār aus Nischapur im heutigen Iran um 1200 auf Persisch verfasste. Eine Abschrift dieser poetischen Erzählung findet sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Sie wurde laut Kolophon 1456 vom Kalligraphen ʿAtīq al-Kātib at-Tūnī angefertigt und wenig später mit dreizehn farbigen Illustrationen versehen. Hiermit ist diese Handschrift eine der frühesten, die diese Geschichte bebildern, und es stellt sich die Frage, wie die mystische Gottsuche malerisch umgesetzt worden ist. Indizien wie Notizen, Glossen und der Stil der Dekoration weisen auf weitere Rezeptionen an verschiedenen Orten hin. Wie wurde aus diesem Buch des spirituellen Reisens ein reisendes Buch?
Im kursiven Duktus nastaʿlīq, einem gängigen Schrifttypus für Dichtung im iranischen Bereich des 15. Jahrhunderts, schrieb ʿAtīq al-Kātib at-Tūnī den Text der Vogelgespräche in zwölf Zeilen pro Seite nieder. Dass es sich um ein Gedicht handelt, ist zudem an den sich reimenden Halbversen zu sehen, die der Kalligraph in zwei Spalten aufteilte, wie es damals üblich war. Anders als beispielsweise bei uns einen Zeitungsartikel liest man den Text nicht Spalte für Spalte von oben nach unten, sondern durchgehend von rechts nach links. Relativ gleichmäßig über das Manuskript verteilt, ließ der Schreiber gezielt dreizehn Stellen für Illustrationen frei. Der malerische Stil und die Sujets der Bilder weisen darauf hin, dass sie im Westen des iranischen Gebietes – etwa in Schiras, Täbris oder Bagdad – angefertigt wurden.
Als Eröffnungsbild fungiert in dieser Handschrift die Darstellung der Himmelfahrt des Propheten Muḥammad auf seinem mythischen Reittier Burāq (Abb. 1). Dieses Motiv illustriert bereits frühere Manuskripte anderen Inhalts, weswegen es nahe liegt, dass der Maler nach einer oder mehreren Vorlagen arbeitete. Durch Vergleich mit anderen solchen Bildern und den zugehörigen Texten lässt sich genau feststellen, welcher Abschnitt der Himmelsreise des Propheten zu sehen ist: Gerade ist er von der Erde aufgestiegen, um über die sieben Himmel endlich zu Gott zu gelangen, und wird von Engeln mit Gaben im Luftraum willkommen geheißen. In dieser Abschrift der Vogelgespräche begleitet die Malerei das lange Prophetenlob, das traditionell Teil der Einleitung eines persisch-islamischen Buches war. Für islamische Mystiker stellt die Himmelsreise des Propheten ein frommes Vorbild für die eigene spirituelle Reise dar: wie Muḥammad suchen Sufis den direkten Kontakt mit dem Allmächtigen. Da auch die Vögel in der Allegorie der Vogelgespräche diesem Ziel nachstreben, ist anzunehmen, dass diese Eröffnungsmalerei den Betrachter bildlich in das Thema der mystischen Reise einführen soll.
Eine andere Darstellung in der Handschrift bezieht sich auf die Rahmenerzählung der Vogelgespräche (Abb. 2). Wie der Mystiker sind auch die Vögel nicht in der Lage, ohne die Leitung eines Sufi-Scheichs zu Gott zu finden. Diese Aufgabe übernimmt in den Vogelgesprächen der Wiedehopf, der links oben im Bild von einem Stein aus zu seinen Novizen spricht. Als Führer ist der Wiedehopf von Natur aus mit einer Haube als Krone und edlem Mantel aus braunen und schwarz-weiß gestreiften Federn ausgestattet. Gerade haben sich die Vögel versammelt, als ihr Drängen nach einen König laut wird, worauf der Wiedehopf anbietet, sie auf dem mystischen Weg zum Vogelkönig oder Gott Sīmurġ zu führen. Nach etwas Zögern machen die verschiedenen Vögel sich zwitschernd auf den Weg. Auf die vielen Fragen und Beschwerden der Vögel hin erzählt der Wiedehopf immer wieder Begleitgeschichten, die in diesem Manuskript ebenfalls illustriert wurden. Über sieben Täler, die mystischen Stationen und Zuständen entsprechen, gelangen die Vögel endlich an den Hof des Königs oder Gottes Sīmurġ. Dort sehen sich die dreißig Vögel, welche die Reise bis zum Ende mitgemacht haben, im Sīmurġ – was auf Persisch „dreißig Vögel” heißt – widergespiegelt. Sie finden den König in sich selbst und sich selbst im König.
Eine erste Etappe in der Reise des Manuskriptes mag Istanbul gewesen sein, die Hauptstadt des osmanischen Reiches. Etliche Glossen in osmanischer Sprache lassen darauf schließen, dass die Handschrift dort benutzt wurde. Sie stehen unter den persischen Wörtern und übersetzen diese (Abb. 3). Dass die Handschrift in Istanbul restauriert wurde, kann an den illuminierten Titelseiten (Abb. 4) festgemacht werden, die als doppelseitige Komposition den Anfang des literarischen Werkes markieren. Sehr ähnliche Illuminationen finden wir nämlich in Manuskripten, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Istanbul angefertigt wurden. Charakteristisch für diesen Stil sind die farbigen Linienbündel an der Innenseite der beiden Blätter, die schwarzen Ranken und Blüten auf dem Hintergrund der Textkartuschen und ineinandergreifende Flächen in Gold und Blau, die als Grund für Arabesken mit typischen Lotus-Blüten dienen. Bei näherer Betrachtung lässt sich weiter erkennen, dass die beiden Titelseiten zwar auf einmal illuminiert und produziert wurden, sie aber aus verschiedenen Blättern bestehen. Das innere, helle Blatt mit Kalligraphie und Textkartuschen wurde in einen leicht orangefarbenen Rahmen eingefasst. Der Übergang zwischen den beiden Blättern und die Stellen, an denen sie zusammengeklebt sind, werden von den farbigen Linien sehr geschickt verdeckt. Hierdurch kann auch die Rahmung aller anderen Blätter des Manuskriptes in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert und als frühe osmanische Restaurierung erkannt werden, die mit einer Neubindung von allen gerahmten Blättern einhergegangen sein muss. Meistens (so Abb. 1, 2) sind die originalen Blätter von 1456 in den osmanischen Rahmen eingelassen. Andere Seiten (so Abb. 3) wurden wie die Titelseiten (Abb. 4) vor ihrer Rahmung als Kopie neu angefertigt. Neben der helleren Farbe des Papiers ist die gute Sichtbarkeit der eingekerbten misṭara-Linien, die als Schreibhilfe dienten, ein klares Indiz dafür, dass diese Blätter jünger sind.
Auf einem blauen Zettel (Abb. 5), der in die Handschrift eingeklebt wurde, vermerkt der gebürtige Tiroler Aloys Sprenger (1813-1893) einen vorherigen Besitzer als „Silvestre de Sacy“. Der Pariser Orientalist Antoine Isaac Silvestre de Sacy (1758-1838) unterhielt gute Kontakte mit Würdenträgern und Botschaftern in Istanbul. Hier dürfte die Handschrift um 1800 angekauft worden sein und ihre Reise nach Europa angetreten haben. Als Wilhelm Pertsch das Manuskript der Vogelgespräche 1888 katalogisierte, war es bereits Teil der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Somit kam auch die Reise der Handschrift zu einem Ende.
Literatur
- PERTSCH, Wilhelm (1888): Verzeichniss der persischen Handschriften von Wilhelm Pertsch. Berlin: A. Asher, 777, Nr. 753.
- STCHOUKINE, Ivan (1971): Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland. Illuminierte islamische Handschriften. Wiesbaden: Steiner, 20–23, Nr. 3, Taf. 1, 2, 14.
- STURKENBOOM, Ilse (2014): “Eine illustrierte Handschrift von Farīd ad-Dīn ʿAṭṭārs Vogelgesprächen Manṭiq aṭ-Ṭayr in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz”. In: Lorenz Korn, Birgitt Hoffmann, Stefanie Stricker (Hg.): Aus Buchwerkstatt und Bibliothek. Manuskriptkulturen des Mittelalters in Orient und Okzident. Bamberg: University of Bamberg Press, 173–230.
Beschreibung
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Signatur: Ms. or. oct. 268
Material: Papier, 198 Blatt, 12 Zeilen pro Seite in zwei Spalten, 13 Illustrationen in Farbe, illuminierte Titelseiten, brauner Ledereinband mit Klappe.
Maße: ca. 16 x 9,5 cm (inneres Blatt), 25,0 x 15,6 cm (äußerer Rahmen)
Herkunft: 860/1456 u. Z., wahrscheinlich in Westiran entstanden. Wohl in Istanbul wurden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die inneren Blätter neu gerahmt, einige Blätter neu angefertigt, und die Illumination der Titelseiten ausgeführt.
Digitalisat: http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN616608314
Text von Ilse Sturkenboom
© für Abb. 1-5 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz