Nr. 31
Wie viele Sprachen finden Sie?
Ein mehrsprachiges Manuskript aus Südindien
Dieses Manuskript (RE22704), das aus dem äußersten Süden Indiens stammt, genauer aus einer der Sammlungen in Pondicherry, bezeugt ein charakteristisches Merkmal des gesamten Subkontinents, insbesondere in akademischen Milieus: Mehrsprachigkeit. Jahrhundertelang war Sanskrit die von der intellektuellen Elite der Region für das Schreiben von Texten benutzte Sprache, aber schon bald verwendete man parallel dazu auch lokale und überregionale Schriftsprachen, in denen ebenso anspruchsvolle Texte erschienen. Wie sich dieses Phänomen in der materiellen Kultur widerspiegelt, ist eine Thematik, die noch einer umfassenden Untersuchung bedarf. Dieses Manuskript stellt ein interessantes Beispiel dafür dar. Ungeachtet seines gleichförmigen Layouts stellt sich die Frage: Wie viele Sprachen enthält es?
Unter den Millionen von Manuskripten, die in den Sammlungen und Bibliotheken Südasiens aufbewahrt werden, befinden sich Tausende, die vollständige oder unvollständige Exemplare von Amarasiṃhas Nāmaliṅgānuśāsana („Lehre von den Nomen und [ihren] Genera“) enthalten, dem renommiertesten traditionellen Sanskrit-Wörterbuch. Seit dem Zeitpunkt seiner Abfassung (bzw. Zusammenstellung), möglicherweise um das 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung herum, bildet es ein wesentliches Hilfsmittel für die Unterweisung junger Schüler in Sanskrit und ein grundlegendes Nachschlagewerk für Lehrer und Wissenschaftler.
Genauer gesagt handelt es sich beim Nāmaliṅgānuśāsana um einen Thesaurus, d.h. ein Synonym-Wörterbuch, in dem Nomen nach Wortfeldern gegliedert aufgezeichnet sind. So gibt es einen Abschnitt mit den Namen göttlicher Wesen, einen für Pflanzennamen usw. Aus diesem Grunde ist das Werk vor allem als Amarakośa („Amaras Thesaurus“) bekannt. Zudem ist es in Versform geschrieben, um das Auswendiglernen der langen Abschnitte zu erleichtern, wie dies bei traditionell ausgebildeten Sanskrit-Gelehrten seit Jahrhunderten üblich ist.
Aufgrund seiner Bedeutung im traditionell überlieferten Wissen überrascht es nicht, dass dieses Werk im Zentrum lebhafter Kommentar-Diskussionen sowohl in Sanskrit wie in verschiedenen Schriftsprachen des Subkontinents stand. Die südindischen Sprachen bilden hier sicher keine Ausnahme, denn viele Bibliotheken sind im Besitz von Exemplaren des Nāmaliṅgānuśāsana, die Anmerkungen in Tamil, Telugu, Malayalam oder Kannada enthalten.
Diese Handschrift bietet also Stoff für eine interessante Fallstudie. Sie besteht aus einem Bündel von annähernd 300 beidseitig beschriebenen Palmblättern zwischen zwei Holzdeckeln, die von einem durch die Löcher gezogenen Bindfaden zusammengehalten werden. Heute ein Teil der Sammlung des Institut Français de Pondichéry (seit 2005 aufgenommen in das UNESCO-Programm „Memory of the World“), wurde das Manuskript höchstwahrscheinlich im 19. Jahrhundert angefertigt und von einem Mann namens Kuruṉātayyaṉ aus der Stadt Veḷḷaṅkoḷḷi (heutiges Kerala?) für einen gewissen Paṭṭaravarkaḷ aus Pāḷayaṅkoṭṭai (Tamil Nadu) niedergeschrieben. Bedauerlicherweise verfügen wir zu keiner der beiden genannten Personen über weitere Angaben.
Angeblich handelt es sich um das komplexeste Manuskript des Nāmaliṅgānuśāsana mit Anmerkungen in Tamil. Gemäß einer gängigen Kommentierungspraxis wird jeder Vers mehrfach analysiert, um sowohl seine Grammatik als auch seine Bedeutung zu erläutern. Bemerkenswert ist, dass die regionalsprachliche Komponente auf folgende Art und Weise eingeführt wird: Erklärungen einzelner Wörter oder ganzer Verse sind in Tamil. Kommentare bilden so gleichzeitig Übersetzungen. Darüber hinaus ist dieses Manuskript durch ein besonderes Merkmal gekennzeichnet: die Präsenz einer dritten sprachlichen Ebene. Unerwartet sind einigen Tamil-Wörtern ihre Telugu-Übersetzungen vorangestellt.
Kommentare zum Nāmaliṅgānuśāsana in der Regionalsprache sind meistens schlicht. Nicht jedes Sanskrit-Wort wird kommentiert oder übersetzt, sondern zu bestimmten Wortgruppen von Nomen werden einzelne Synonyme in Tamil aufgeführt. Dies deutet auf ein Bildungsumfeld hin, in dem jungen Schülern Sanskrit beigebracht wurde, indem man die wichtigsten semantischen Kategorien des Nāmaliṅgānuśāsana übersetzte, während anspruchsvollere lexikalische Analysen fortgeschrittenen Schülern vorbehalten waren und anhand von in Sanskrit verfassten Kommentaren durchgeführt wurden. Teilweise abweichend von dieser Tendenz, finden sich in diesem Manuskript beeindruckende Kommentare zu den Strophen 2 bis 5, welche vermitteln, wie das Lexikon zu benutzen ist, und insbesondere zu Strophe 1, der Anrufung der Gottheit. Tatsächlich ergeht sich der Kommentar zu Letzterer in einer ausgedehnten theologischen Abhandlung, die den Leser davon zu überzeugen sucht, dass die Anrufung sich an verschiedene religiös-philosophische Schulen gleichzeitig richtet. Des Weiteren reflektiert der Kommentar auf der Suche nach einer stichhaltigen Begründung für das, was gelegentlich nach einer maßlosen Überinterpretation aussieht, seine eigene kommentierende Funktion.
Solch eine Ansammlung spezifischer Charakteristika macht dieses Manuskript zu einem einzigartigen Exemplar und deutet darauf hin, dass Kuruṉātayyaṉ der Autor der vorhandenen Anmerkungen in Tamil (und Telugu) war. Es gibt also gute Gründe für die Annahme, dass der Kopist ein Telugu sprechender Gelehrter war, der in einem Umfeld arbeitete, in dem Sanskrit und Tamil als Hauptsprachen des intellektuellen Diskurses fungierten. Hierbei handelte es sich möglicherweise um ein Śrīvaiṣṇava-Milieu, in dem bestimmte, sich auf den Hindu-Gott Viṣṇu beziehende, erbauende und spekulative Sanskrit-Texte in einer hoch-sanskritisierten Form des Tamil (üblicherweise als Manipravalam bezeichnet) kommentiert wurden, wie es auch bei dem vorliegenden Manuskript der Fall ist.
Im Gegensatz zu vielen anderen Manuskript-Traditionen wird in der südindischen die Unterscheidung von Text und Kommentar für gewöhnlich nicht durch das Layout kenntlich gemacht, selbst dann nicht, wenn diese in unterschiedlichen Sprachen verfasst sind. So verhält es sich auch in diesem Manuskript, in dem keine Lücken zwischen dem jeweiligen Sanskrit-Wort und dem Kommentar in Tamil, oder gelegentlich Telugu, gelassen werden (es gibt lediglich eine sparsame Zeichensetzung). Hinzu kommt, dass alle drei Sprachen (Sanskrit, Tamil und Telugu) in einer Mischform der Tamil-Schrift und der tamilischen Grantha-Schrift geschrieben sind, zwei ähnliche Schriftsysteme, die den Nutzer des Manuskripts dazu zwingen, jede Zeile des Textes ganz durchzulesen, um die verschiedenen Ebenen und Sprachen voneinander unterscheiden zu können.
Literatur
- NARAYANA RAO, Velcheru (2003): „Multiple Literary Cultures in Telugu: Court, Temple, and Public“. In: Sheldon Pollock (Hg.): Literary Cultures in History: Reconstructions from South Asia. Berkeley, Los Angeles, London: Columbia University Press, 383–436.
- RAMANATHAN, A. A. (Hg.) (1971): Amarakośa [I] with the Unpublished South Indian Commentaries: Amarapadavivṛti of Liṅgayasūrin and the Amarapadapārijāta of Mallinātha. Madras: The Adyar Library and Research Centre.
- VENKATACHARI, K. K. A. (1978): The Maṇipravāḷa Literature of the Śrīvaiṣṇava Ācāryas. Bombay: Ananthacharya Research Institute.
- VOGEL, Claus (1979): Indian Lexicography. Wiesbaden: Harrassowitz.
Beschreibung
Gegenwärtiger Besitzer: Institut Français de Pondichéry (Pondicherry, Indien).
Signatur: RE22704 - amarakośaḥ drāviḍaṭīkāsahitaḥ (apūrnaḥ).
Material: Palmblattbündel; zwei Holzdeckel und ein Bindfaden.
Blätter: Insgesamt 284 Blätter. Ein Titelblatt (amarapañcakai); ein leeres Schutzblatt; 276 Blätter mit ursprünglicher Nummerierung von 1 bis 276 (acht Zeilen je Blatt); zwei leere Schutzblätter; drei Schutz(?)blätter, die einen Teil eines unbekannten Textes (möglicherweise eines Lexikons) enthalten; ein leeres Schutzblatt.
Maße: 25,4 x 4,3 cm.
Herkunft: Südindien (vermutlich das südliche Tamil Nadu), ca. 19. Jahrhundert.
Text von Giovanni Ciotti
© für alle Bilder: Institut Français de Pondichéry