Nr. 29
Ein vielbändiges Manuskript des mongolischen buddhistischen Kanons
Die erste bis heute erhaltene Ausgabe des Kanjur (Kanon des Buddhismus in mongolischer Übersetzung) enthält insgesamt 883 Schriften und wurde von 1628 bis 1629 unter Ligdan Khan (1588–1634), dem letzten Khan der Mongolei, in Manuskriptform erstellt. Das einzige vollständige Manuskript – es umfasst 113 Bände – wird heute in der Bibliothek der Staatlichen Universität Sankt Petersburg in Russland aufbewahrt. Trotz seiner langen Erforschungsgeschichte lässt dieses gewaltige Manuskript noch immer einige Fragen offen. Wann und wo wurde es geschrieben? Warum weist es eine so andere Gliederung auf als die Blockdruckausgabe des mongolischen Kanons, die im 18. Jahrhundert zusammengestellt wurde?
Die Rezeption kanonischer Schriften des Buddhismus durch die Mongolen begann unter der Herrschaft der mongolischen Yuan-Dynastie, die von 1280 bis 1368 über China herrschte. Nach dem Untergang der Dynastie ebbten die mongolischen Übersetzungsaktivitäten fast zwei Jahrhunderte lang ab, bevor sie unter Altan Khan (1508–1582) vom Stamm der Tümed-Mongolen mit neuem Schwung wieder aufgenommen wurden. Einigen mongolischen Quellen zufolge wurde die Niederschrift des vollständigen Kanjur unter Altans Enkelsohn Namudai Sechen Khan (1586–1607) abgeschlossen. Bedauerlicherweise hat diese Version die Zeitläufte nicht überstanden. Die nächste Ausgabe des Manuskripts entstand in den Jahren 1628 bis 1629 unter Ligdan Khan. In dieser kurzen Zeit gelang es einem relativ kleinen Team, alle 883 Werke des mongolischen Kanjur zu übersetzen, was nahezu unmöglich erscheint. Heute wissen wir, dass Ligdan Khans Redaktionsstab ausgiebig von älteren Übersetzungen Gebrauch machte. Später bildete diese Textsammlung den Grundstein einer weiteren – diesmal in Blockdruck hergestellten – Ausgabe des Kanjur, die von 1718 bis 1720 unter dem Patronat des chinesischen Kaisers Kangxi (1654–1722) in Peking entstand.
Entsprechend der historiografischen Tradition der Mongolei brachte die übersetzerische und redaktionelle Arbeit unter Ligdan Khan ein opulentes Manuskript in goldener Schrift auf blauem Grund hervor, das deshalb Goldener Kanjur genannt wurde. Nur wenige Bände dieser Ausgabe sind erhalten. Sie befinden sich heute in der Bibliothek der Akademie für Sozialwissenschaften der Inneren Mongolei im chinesischen Hohhot. Eine Reihe einfacher – oder „schwarzer“ – Ausfertigungen wurde entweder zusammen mit dem Goldenen Kanjur oder erst später, während des 17. Jahrhunderts, erstellt. Einige Fragmente dieser Exemplare werden in Bibliotheken in Europa, der Mongolei und China verwahrt, doch das einzige vollständige – und vermutlich älteste – „schwarze“ Manuskript des Kanjur Ligdan Khans ist im Besitz der Bibliothek der Staatlichen Universität Sankt Petersburg. Es wurde 1892 von dem herausragenden russischen Gelehrten Alexei M. Posdnejew (1856–1920) in der Inneren Mongolei entdeckt. Als Teilnehmer einer Forschungsexpedition in der Stadt Kalgan, die unweit der Chinesischen Mauer an der ehemaligen Hauptverbindungsroute zwischen China und der Mongolei liegt, begegnete Posdnejew zufällig einem Postmeister namens N. Gombojew. Dieser teilte dem Wissenschaftler mit, er habe kürzlich eine komplette Handschriftenausgabe des mongolischen Kanjur erworben und sei bereit, sie der Universität Sankt Petersburg zu überlassen – unter der Bedingung, dass seine drei Söhne dort kostenlos studieren dürften und die Universität für die Ausbildung seiner Tochter in Irkutsk aufkäme. Nach einigen Verhandlungen kaufte die Universität Sankt Petersburg ihm das umfangreiche Manuskript für 4500 Rubel ab.
Das in Sankt Petersburg verwahrte Kanjur-Manuskript besteht aus 113 Kapiteln im pothi-Format (d.h. mit rechteckigen Einzelblättern aus Papier), zusammengefasst zu 100 Bündeln oder physischen Einheiten. Jedes Bündel wird von zwei Holzdeckeln geschützt und ist mit einer Schnur fixiert. Darin enthalten sind jeweils ein oder zwei Kapitel Text, und an je einem der beiden Deckel ist ein schäbiges rotes Stück Stoff als Etikett befestigt (siehe Abb. 1). Die Etiketten enthalten Angaben zum Abschnitt des Kanons, zur Bandnummer im Gesamt-Kanjur und im jeweiligen Abschnitt sowie zur Gesamtseitenzahl des Bandes.
Das Kanjur-Manuskript ist ausweislich der Bündeletiketten in zehn Abschnitte untergliedert. Die Reihenfolge der Abschnitte und der darin enthaltenen Schriften entspricht im Detail keiner bekannten Ausgabe des tibetischen Kanons. Diese Tatsache, gepaart mit der beträchtlichen Anzahl von Dopplungen, bei denen es sich größtenteils um unterschiedliche mongolische Übersetzungen derselben tibetischen Schriften handelt, veranlasste die Wissenschaft ursprünglich zu der Annahme, das Manuskript sei eigentlich ein recht willkürlich zusammengestellter Entwurf. Erst durch einen Vergleich mit dem Goldenen Kanjur fanden die Forscher heraus, dass die Reihenfolge der Abschnitte und Schriften alles in allem typisch für die Kanjur-Version des Ligdan Khan war.
Jeder Band des Manuskripts lässt ein einheitliches Textlayout erkennen. Die Namen der Abschnitte und die Bandnummern sind auf den Titelseiten der Bände angegeben (siehe zum Beispiel Abb. 2). Die Mehrzahl der Titel wird zuerst auf Sanskrit und Tibetisch (transkribiert/transliteriert in mongolischen Lettern) und dann auf Mongolisch genannt. Die Titel oder Anfangszeilen der Texte sind mit roter Tinte geschrieben oder in manchen Fällen rot hervorgehoben (siehe Abb. 3). Am Ende der Schriften finden sich Textabschnitte (Kolophone), die Auskunft über den Auftraggeber und die mit der Übersetzung des Kanjur befasste Kommission geben.
Das 113-bändige Manuskript ist auf zweilagig verleimtem chinesischem Papier verfasst. Dieses hochwertige Papier besteht aus langen Fasern von Papiermaulbeere und Bambus. Das Blattmaß beträgt 68,5 x 23,5 cm. Der mit einer Schilfrohrfeder (Kalmus) in schwarzer Tusche geschriebene Text wird von einem Rahmen (57,5 x 15,5 cm) in Form einer schwarzen Umrisslinie eingefasst. Die mit einem tibetischen Buchstaben markierte Bandnummer, ein Marginaltitel, der den Abschnitt des Kanjur anzeigt, und die Paginierung in mongolischer Schrift sind außerhalb des Rahmens auf den Rückseiten der Blätter angegeben (siehe Abb. 3).
Die 113 Bände des Sankt Petersburger Kanjur weisen eine Vielzahl unterschiedlicher Handschriften auf. In manchen Fällen wurde selbst ein einziger Text in einem Band von verschiedenen Schreibern zu Papier gebracht. Gleichwohl sind alle Handschriften im Stil charakteristisch für Manuskripte, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der südlichen Mongolei erstellt wurden. Der Großteil der orthografischen Besonderheiten ist ebenfalls typisch für diese spezielle Periode.
Zusammengefasst ergibt eine Analyse von Text und Erscheinung des Sankt Petersburger Manuskripts, dass es in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Südmongolei angefertigt wurde und das älteste noch erhaltene „schwarze“ Exemplar des mongolischen Kanjur darstellt. Auch liegt der Schluss nahe, dass Ligdan Khans Redaktionsstab nicht nur intensiv auf ältere Übersetzungen zurückgriff, sondern sich auch auf die von früheren mongolischen Übersetzern vorgegebene Reihenfolge der Schriften stützte. Das würde erklären, warum die Gliederung des Sankt Petersburger Manuskripts von der Blockdruckausgabe des mongolischen Kanons abweicht, der nach dem Vorbild einer tibetischen Ausgabe des buddhistischen Kanons gestaltet wurde.
Literatur
- ALEKSEEV, Kirill / TURANSKAYA, Anna (2013): „An overview of the Altan Kanjur kept at the Library of the Academy of Social Sciences of Inner Mongolia“. In: Asiatische Studien / Études Asiatiques, LXVII (3), 755–782.
- HEISSIG, Walther (1957): „Zur Entstehungsgeschichte der Mongolischen Kandjur-Redaktion der Ligdan Khan-Zeit (1628–1629)“. In: Studia Altaica. Festschrift für Nikolaus Poppe zum 60. Geburtstag am 8. August 1957. Wiesbaden: Harrassowitz [Ural-Altaische Bibliothek, 5], 71–87.
- HEISSIG, Walther (1962): „Beiträge zur Ubersetzungsgeschichte des mongolischen buddhistischen Kanons“. In: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 50. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- HEISSIG, Walther (1973): „Zur Organisation der Kandjur-Übersetzung unter Ligdan-Khan (1628–1629)“. In: Zentralasiatische Studien 7, 477–501.
- KASYANENKO, Zoya K. (1993): Katalog peterburgskogo rukopisnogo 'Gandzhura'. Sostavleniye, vvedeniye, transliteraciya i ukazateli. Bibliotheca Buddhika XXXIX [Pamyatniki pis’mennosti Vostoka CII] . Moskva: Nauka.
- KOLLMAR-PAULENZ, Karenina (2002): „The Transmission of the Mongolian Kanjur: A Preliminary Report“. In: Helmut Eimer und David Germano (Hgg.): The Many Canons of Tibetan Buddhism. Leiden: Brill, 151–176.
- USPENSKY, Vladimir L. (1997): „The Tibetan Equivalents to the Titles of the Texts in the St. Petersburg Manuscript of Mongolian Kanjur: A Reconstructed Catalogue“. In: Helmut Eimer (Hg.): Transmission of the Tibetan Canon. Papers Presented at a Panel of the 7th Seminar of the International Association for Tibetan Studies, Graz 1995. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 113–176.
Beschreibung
Universitätsbibliothek Sankt Petersburg, Orientabteilung
Signatur: Ms. Mong. 1-113
Material: 113 Bände, chinesisches Papier
Maße: 68,5 x 23,5 (62 x 20) cm
Herkunft: Innere Mongolei (China), erste Hälfte des 17. Jahrhunderts
Text von Kirill Alekseev
©: Bildreproduktionen mit freundlicher Genehmigung der Staatlichen Universität Sankt Petersburg.