Nr. 20
Ein Manuskript als Kartenspiel?
Ein Set von abgegriffenen Spielkarten in einem Lackkästchen, mit farbigen Porträts von Männern und Frauen in historischer Kleidung, darüber und daneben feine kalligraphische Tuschespuren. Warum ein Kartenspiel für die Familie aus dem Japan des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand der Manuskriptologie werden kann.
Dieses Manuskript aus privatem Besitz besteht aus einem Set von ursprünglich 200, jetzt noch erhaltenen 198 kleinen Spielkarten, die auf jeweils 100 Karten den Ober- und Unterstollen der populärsten Gedichtanthologie Japans, der „Anthologie jeweils eines Gedichts von 100 Dichtern“ (Hyakunin isshu), wiedergeben.
Die Karten sind aus Papier, das auf dünnen Karton aufgezogen wurde. Die spezielle Form des Beschreibstoffs als (Spiel-)Karte geht, wie bereits die japanische Bezeichnung karuta (port. carta) andeutet, auf eine frühe Begegnung mit Europa durch die christlichen Missionare am Ende des 16. Jahrhunderts zurück. Die einzelnen Karten sind 78 x 54 x 1 mm groß.
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Die Materialanalyse weist für die Miniaturen eine Reihe von Pigmenten und Farbstoffen nach. Besonders auffallend ist das leuchtende Orange. Hierbei handelt es sich um Mennige, ein Bleioxidpigment, welches bereits seit der Antike künstlich hergestellt wurde. Die blauen Partien hingegen wurden mit Indigo gestaltet. Das organische Pigment ist eines der bekanntesten blauen Farbmittel. Offenbar wurden an den Spielkarten bereits einige Reparaturen ausgeführt, hier wurde blaue Smalte verwendet. Im Bereich des Textes weisen die Bildkarten einen wolkenartigen Bereich auf, der aus einzelnen, silberfarbenen Flecken besteht; dabei handelt es sich um Zinnfolie.
Die Sets von Ober- und Unterstollen, also zwei zusammengehörige Karten, unterscheiden sich zum einen durch die Menge des Textes und durch die Abbildungen: Die Karte des Oberstollens umfasst die jeweilige Gedichtpartie, überdies zu Beginn rechts außen den Namen des Dichters. In der unteren Hälfte wird ein Porträt desselben wiedergegeben. Die Karte des zugehörigen Unterstollens ist einfacher gehalten und enthält nur den jeweiligen Text.
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Auch wenn der erste Anschein trügen mag: Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein Manuskript. Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend: Zum einen wurden alle 200 Gedichtpartien mit dem Pinsel von Hand geschrieben. Die Schreibrichtung ist traditionell von oben nach unten sowie von rechts nach links. Die Aufteilung der einzelnen Schriftzeichen in leicht versetzten Reihen gehorcht dabei ästhetischen Merkmalen. Bei den verwendeten Schriftzeichen handelt es sich um Kursivformen (sog. „Grasstil“, jap. sôsho) sowohl der einzelnen Schriftzeichen (jap. kanji) als auch zahlreicher Varianten der Lautsilbenzeichen (jap. hentaigana). Diese Mischung verrät zugleich etwas über die Entstehungszeit: Die Verwendung von unterschiedlichen Ausgangsschriftzeichen (jap. jibo) zur Wiedergabe von Lautsilben ist ein typisches Merkmal für die Edo-Zeit. Unser Manuskript zeigt dabei, daß in den Anfängen einer breiten Literarisierung noch keine größeren Anstalten zur Vereinfachung und Standardisierung von Schrift gemacht wurden. Der Lerneffekt beim Spielen, wenn es beispielsweise zu einem Oberstollen aus der Menge der offen ausgebreiteten Unterstollen die passende Karte herauszufinden galt (eine Art Memory-Variante des Spiels), war entsprechend hoch.
Im Unterschied zur Schrift handelt es sich bei den Darstellungen der einzelnen Dichter zunächst um Holzblockdrucke. Sie wurden allerdings nachträglich handkoloriert. Den Figuren sind in einigen Fällen Attribute beigegeben, die sie grob identifizieren helfen (ein Rosenkranz bei Angehörigen des Klerus, Pfeil und Bogen bei einem bestimmten Dichter). Auch anhand der Kleidung oder anderer ikonographischer Details lassen sich etwa Rangpositionen erkennen. Aufbewahrt wurden derartige Kartensets in einem extra angefertigten Lackkästchen, das mit einem Deckel und einer Kordel verschlossen werden konnte.
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Der zweite Grund, diese Kartensammlung als Manuskript zu verstehen, ist die Tradition, aus der sie stammt. Ihre beiden auffallendsten Merkmale sind die Einbeziehung von Illustrationen und die physische Trennung der einzelnen Teile des Textes. Ersteres hat sich von einer sehr alten Tradition, Illustrationen zu handgeschriebenen Gedichten beizufügen, anregen lassen. Die Trennung der Gedichte in zwei getrennte physische Einheiten hingegen ist eine echte Neuerung. Jahrhundertelang wurde die Anthologie der 100 Gedichte, die bereits um das Jahr 1240 von dem führenden Poeten seiner Zeit, Fujiwara no Teika (1162–1241), zusammengestellt worden war, als herkömmliches Manuskript tradiert, allein oder zusammen mit anderen Gedichtsammlungen.
Indem jedoch zu Anfang des 17. Jahrhunderts die traditionelle Manuskriptform durch Doppelkarten ersetzt wurde, veränderte sich auch der Umgang mit dem darauf enthaltenen Text. Es begann die Verbreitung in adligen und später auch bürgerlichen Kreisen. Das Werk in der vorliegenden Form erhielt so den Status einer Fibel, die Lesefähigkeiten einerseits und ein bestimmtes kanonisches Wissen von Poesie andererseits vermittelte. Die neue Manuskriptform hat damit entscheidend das Bild von der klassischen Poesie des höfischen Kurzgedichts (die sog. waka-Dichtung) bis in die Gegenwart geprägt.
Mit der neuen Manuskriptform geht ein weiteres Merkmal einher: die Betonung der Räumlichkeit. Fällt gewöhnlich der Blick auf eine Manuskriptseite, so verschwindet gerade bei den schmaler gebundenen Kodizes oder der Querrolle in Ostasien der räumliche Charakter des Buches weitgehend. Hier hingegen, wie bei allen Kartenspielen, dominiert die Dreidimensionalität sowohl in der Aufbewahrungsform als auch bei der Benützung selbst: Die gefundenen Paare wandern in die Hand des Spielers, sie werden nach und nach vor ihm aufeinandergestapelt oder beim Mischen unter- und übereinandergeworfen. Entsprechend fallen aber auch die Abnutzungsspuren aus.

Die Herkunft des hier vorgestellten Exemplars ist nicht mehr eindeutig nachzuvollziehen; es gelangte vermutlich über Kontakte zur Universität Hiroshima gegen Ende des 20. Jahrhunderts an das Hamburger Seminar für Sprache und Kultur Japans. Der Zustand sowohl der Karten als auch des Lackkästchens ist nicht sehr gut. Zwei Karten sind verloren gegangen, eine weitere ist zerbrochen. Die Karten zeigen zum Teil deutlich Abriebspuren vom Gebrauch, insbesondere auf der einfarbigen Rückseite; auch das Lackkästchen hat zahlreiche Stoßspuren. Gut erhaltene Exemplare werden im japanischen Antiquariats- oder Antiquitätenhandel aktuell für bis zu 380.000 Yen (etwa 2.900,– Euro) angeboten.
Dieses PDF zeigt alle vorhandenen Karten in einer Übersicht (4,8 mb)
Bei den Abbildungen 1 bis 6 zeigt eine Berührung mit dem Mauszeiger die Ausgangsschriftzeichen (jap. jibo) der auf den Karten verwendeten Kursivformen.
Literatur
- Als wär’s des Mondes letztes Licht am frühen Morgen: Hundert Gedichte von hundert Dichtern aus Japan; hrsg. und übertr. von Jürgen Berndt. Frankfurt/M.: Insel, 1987
- Klie, Nicole: „Gespenstischer Zeitvertreib: ein Spuk-iroha-Kartenspiel aus der Edo-Zeit“, in: Sünden des Worts: Festschrift für Roland Schneider zum 65. Geburtstag; hrsg. von Judit Árokay und Klaus Vollmer. Hamburg: OAG, 2004, S. 299–321 (= MOAG; 141)
- Mostow, Joshua S.: Pictures of the Heart: The Hyakunin Isshu in Word and Image. Honolulu: University of Hawaii Press, 1996
- Yoshikai, Naoto: „Hyakunin isshu to karutae“, in: Bungaku to kaiga: kodai, chûsei no bungaku to kaiga [Sonderheft von] Kokubungaku: kaishaku to kanshô 63:8. 1998, S. 61–66.
Kurzbeschreibung
Papier auf Karton, 198 erhaltene Karten, einseitig beschrieben und bedruckt
Maße: 78 x 54 x 1 mm
Aufbewahrung: Lackkästchen
Entstehungsort: Japan
Mutmaßliche Entstehungszeit: 18. bis Anfang 19. Jahrhundert
Text von Jörg B. Quenzer (unter Mithilfe von YAMAMORI Takeshi, Oliver Hahn und Emanuel Kindzorra)
© für alle Abbildungen: CSMC