Nr. 14
Das Gebet als sakrale Peepshow?
Das Kopenhagener Stundenbuch und sein besonderes Layout
Durchlöcherte Buchseiten, durch die man auf darunterliegende Bilder blickt – das ist eine Idee, die man heute wohl am ehesten mit einem Kinderbuch assoziieren würde. Was aber hat es damit auf sich, wenn uns solche „Gucklöcher“ in einem christlichen Gebetbuch, einem sogenannten Stundenbuch, aus dem frühen sechtzehnten Jahrhundert begegnen? Handelt es sich, wie bisher angenommen, auch hier bloß um eine Spielerei, oder wurde eine tiefere Absicht verfolgt?
Das sogenannte Kopenhagener Stundenbuch, benannt nach seinem heutigen Aufbewahrungsort in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen, wird der Werkstatt des bekannten französischen Buchmalers Jean Poyer zugeschrieben. Mit Seitenmaßen von 25,5 × 17 cm ist es etwas größer als ein DIN A5 Format und umfasst 80 Pergamentblätter. Der Begriff Stundenbuch leitet sich von der täglichen Praxis des Stundengebets ab, einer Reihe von insgesamt acht Gebetseinheiten, die über den gesamten Tag verteilt waren. Ursprünglich war diese komplexe Form der Andacht Mitgliedern des Klerus vorbehalten. Durch das Stundenbuch, das alle notwendigen Texte in einer übersichtlichen Reihenfolge enthielt, wurde sie jedoch auch wohlhabenden und gebildeten Laien zugänglich.
Die Entstehung des Kopenhagener Stundenbuchs wird ungefähr auf das Jahr 1500 datiert, also in einer Zeit, als man in Europa sowohl handgeschriebene als auch gedruckte Bücher herstellte. Um mit dem Buchdruck konkurrieren zu können, welcher bei den Produktionskosten wie bei der Produktionsgeschwindigkeit einen unüberbrückbaren Vorsprung besaß, setzten die Hersteller von Manuskripten auf eine qualitativ besonders hochwertige und ästhetisch ausgefeilte Ausführung, sowie auf möglichst vielschichtige Gestaltungskonzepte.
Neben ihrer spirituellen Bedeutung sollte daher auch der materielle Wert vieler Stundenbücher nicht unterschätzt werden. Sie waren wertvolle, aufwendig dekorierte Objekte, die den Reichtum und ausgesuchten Geschmack ihrer Besitzer zur Schau stellten, und sie wurden als exquisite Geschenke oder Erbstücke hoch geschätzt. Viele besonders wohlhabende Personen besaßen sogar mehrere solcher Werke. Ob jedes Stundenbuch auch wirklich zur Andacht genutzt wurde, ist aus heutiger Sicht fraglich. Viele besonders reich dekorierte Exemplare haben sich dafür in allzu gutem Zustand erhalten. Dennoch sind die allermeisten Stundenbücher für die tägliche Gebetsarbeit konzipiert worden und in ihrem Layout auf eine solche abgestimmt. Häufig gehen dabei Bildschmuck und Text eine besondere und ausgeklügelte Beziehung miteinander ein.
Das Kopenhagener Stundenbuch ist dafür ein gutes Beispiel, denn es bietet ein Layout, das unter allen heute bekannten europäischen Büchern aus dem Mittelalter bis auf ein weiteres Beispiel einzigartig ist. Insgesamt sechzehn gleich große rautenförmige Miniaturen, die jeweils in der Mitte einer Seite platziert wurden, sind über das ganze Stundenbuch verteilt. Die dazwischen liegenden Pergamentblätter sind ebenfalls rautenförmig ausgeschnitten, sodass an fast jeder beliebigen Stelle im Buch immer zwei einander gegenüberliegende Miniaturen gleichzeitig wie durch „Gucklöcher“ sichtbar sind. Zumeist wird jeder Gebetszyklus, das heißt eine Reihe von Gebeten, die jeweils mehrere Gebetszeiten eines jeden Tages abdeckt, von zwei Bildern begleitet. Die durchbrochenen Seiten, die über den Miniaturen liegen, bilden eine Art Sehschacht. Liest man nun die Gebete des Stundenbuchs und blättert dabei seine Seiten um, so wird dieser Schacht über der Miniatur auf der rechten Seite ab- und über der Miniatur auf der linken Seite aufgebaut. Dadurch entsteht der Eindruck, als bewege man sich als Betrachter zwischen beiden Miniaturen. Mit jeder umgeblätterten Seite entfernt man sich von der linken Miniatur und nähert sich an die rechte an. Vermutlich bestand die Absicht dabei darin, den Leser diesen Weg durch das Buch im Verlauf jedes Gebetszyklus, also Tag für Tag, immer wieder zurücklegen zu lassen.
Dass es sich bei dieser ungewöhnlichen Gestaltung um mehr als nur eine visuelle Spielerei handelt, lässt sich erahnen, wenn man die beiden Miniaturen betrachtet, die die sogenannten Bußpsalmen begleiten (siehe Abbildung). Es handelt sich dabei links um eine Darstellung des biblischen Königs David, sowie rechts um ein Bild der nackten, badenden Bathseba, der Frau von Davids Diener Urija (2.Samual Kap. 11). Der König lehnt sich aus dem Fenster und fixiert die Badende mit seinen Blicken. Damit ist eine Szene gewählt worden, die vom Ursprung der Texte erzählt, die sie illustriert. Denn es ist Davids ungezügelter Blick auf Bathseba, der ihn später zum Ehebrecher und Mörder werden lässt. Und um diese Sünden zu vergelten, verfasste er der jüdischen und christlichen Tradition nach die Verse, die dann seit dem fünften Jahrhundert als Bußpsalmen (6, 32, 38, 51, 102, 130, 143) bekannt wurden.
Liest man nun die Gebetstexte und blättert die Seiten um, so scheint man dem Blick des Königs zu folgen und sich immer weiter an die nackte Badende anzunähern. Text und Bild werden so in ein starkes Spannungsverhältnis zueinander gesetzt. Denn während die Gebete eigentlich der Reue und Buße dienen sollen, fordern die Bilder und das Layout des Buches fast dazu auf, Davids sündigem Beispiel zu folgen.
Literatur
- Bartz, Gabriele und Eberhard König (1998), Das Stundenbuch, Stuttgart/Zürich.
- Büttner, Frank O. (2004): „Sehen – verstehen – erleben: besondere Redaktionen narrativer Ikonographie im Stundengebetbuch“, in Ulla Haastrup und Søren Kaspersen (Hrsg.), Images of Cult and Devotion, Kopenhagen: Museum Tusculanum Press, 89–148.
- Hofmann, Mara (2004), Jean Poyer. Das Gesamtwerk, Turnhout: Brepols.
- Wieck, Roger S. et al. (2000): The Hours of Henry VIII: A Renaissance Masterpiece by Jean Poyet, New York: George Braziller.
Kurzbeschreibung
Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen (Dänemark)
Signatur: Ms Thott 541 4°
Einband: Roter Samt über alten Holzdeckeln, Seiten: Pergament, Seitenmaße: 25,5 × 17cm
Entstehungsort: Frankreich, vermutlich Tours. Entstehungszeit: ca. 1500
Text von Rostislav Tumanov
© für alle Bilder: Det Kongelige Bibliotek Kopenhagen