Nr. 13
Verborgene Heilige und Buchbinder
Blättert man durch ein kleinformatiges Manuskript mit osmanisch-türkischen und arabischen Texten aus der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, springen zwei Illustrationen ins Auge, die einem Kompass ähneln. Sie zeigen, wo die „Männer der Verborgenheit“, eine Gruppe von Heiligen, zu finden sind. Bei genauerer Durchsicht des Büchleins fällt auf, dass die Blätter teilweise ungeordnet aufeinander folgen, und man fragt sich, welcher Buchbinder sich eine solche Fahrlässigkeit leisten konnte. Lässt sich darauf eine Antwort finden, oder wird dies verborgen bleiben?
Das Format des in Leder gebundenen Büchleins erinnert an einen kleinen, aber recht umfangreichen Taschenkalender (Abb. 1). Seine 249 Blätter sind Teile verschiedener Manuskripte, die sich aufgrund ihrer spezifischen Merkmale voneinander unterscheiden lassen. Auf einigen Blättern erscheint die Schrift weniger sorgsam ausgeführt und der Textkörper ist nicht umrahmt (Abb. 2, linke Seite). Andere Blätter zeichnen sich durch eine auffällig kleine und akkurate Schönschrift aus (Abb. 2, rechte Seite). Dazu zählt auch ein dem Titelblatt vorangestelltes Kalligramm, d. h. eine meist mit Bedeutung aufgeladene dekorative Komposition aus Buchstaben (Abb. 3, linke Seite). Insgesamt lassen sich sieben Gruppen von Blättern unterscheiden, die jeweils auf ein anderes Manuskript zurückgehen. Einige Blätter, die zu ein und derselben Gruppe gehören, sind jedoch nicht in der richtigen Reihenfolge angeordnet oder im gesamten Band verstreut. Wer ist für solch eine Zusammenstellung verantwortlich? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, lohnt es sich, einen Schritt zurückzugehen: Wer benutzte die sieben Manuskripte, bevor Teile von ihnen in diesem Büchlein vereint wurden?
Aus einem Stempel und zwei Besitzvermerken sind zwar die Namen vermeintlicher Besitzer der sieben Manuskripte ersichtlich, doch lassen sich hieraus kaum weitere Informationen gewinnen. Das Gleiche gilt für die Datierung, denn nur eine der sieben Blättergruppen enthält einen diesbezüglichen Vermerk: Der Schreiber gibt an, seine Arbeit im Jahre 1547 fertiggestellt zu haben. Aus den arabisch und osmanisch-türkischen Texten geht jedoch hervor, dass die ursprünglichen Manuskripte Sammlungen von Koranversen, Bittgebeten und Talismanen waren. Diese sollen Schutz gegen Feinde bieten oder finden bei Krankheit, unerwiderter Liebe und Vielem mehr Anwendung. Zu einem dieser Bittgebete gehören die beiden, einem Kompass ähnelnden Illustrationen. Sie zeigen für jeden Tag des Monats an, in welcher Himmelsrichtung sich die „Männer der Verborgenheit“ befinden. Von diesen Heiligen heißt es, sie blieben für Menschen meist unsichtbar (Abb. 4 und 5). Wer solche Texte sammelte, tat dies vermutlich nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern auch, um Anderen zu helfen. Es ist also durchaus denkbar, dass die Texte in einem kleinen Buch zusammengefasst wurden, das man etwa in einer Umhängetasche oder in der Tasche eines Kleidungsstückes stets bei sich haben konnte. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass einer der ursprünglichen Besitzer die Blätter verschiedener Manuskripte derart unsortiert zusammenband, wie dies im vorliegenden Büchlein der Fall ist.
Im Jahre 1720 taucht das fragliche Manuskript im Katalog der Privatbibliothek des Frankfurters Zacharias Conrad von Uffenbach auf. Höchstwahrscheinlich befand es sich unter den Neuerwerbungen, die der bekannte Buchsammler von seinen Reisen nach Niedersachsen, Holland und England mitbrachte. Als Carolus Dadichi, ein Christ aus Antiochia, die orientalischen Manuskripte der uffenbachschen Sammlung 1719 für den im folgenden Jahr erscheinenden Katalog beschrieb, vermerkte er, das Manuskript sei unvollständig und ungeordnet. Dadichis kurze lateinische Beschreibung ist noch im Manuskript zu finden (Abb. 3, rechte Seite). Im Jahre 1749 kaufte dann Johann Christian Wolf, der damalige Vorsteher der Hamburger Stadtbibliothek, Teile der uffenbachschen Sammlung, darunter vermutlich auch das besagte Manuskript (siehe Manuskript des Monats vom August 2012). Carl Brockelmann, der das Manuskript im Jahre 1908 erneut katalogisierte, ging jedoch nicht auf die ungeordnet gebundenen Blätter ein, sondern beschrieb das Büchlein als Werk verschiedener Schreiber.
Auch wenn man kein Hilfsmittel zur Hand hat, das so leicht anwendbar ist wie der Kompass für die „Männer der Verborgenheit“, kann dennoch vermutet werden, wie das Manuskript seine heutige Form annahm. Der frühestmögliche Zeitpunkt der Bindung ist das Jahr 1547, das bereits erwähnte Datum aus dem Vermerk des Schreibers der einen Gruppe von Blättern. Spätestens wurde das Manuskript im Jahre 1719 gebunden, als Dadichi seine Zusammenfassung in das Manuskript einfügte. Zudem ist wahrscheinlich, dass drei Blättergruppen bereits zuvor zusammengebunden waren, da sie allesamt Verfärbungen mit einem ähnlichen Muster aufweisen. Diese dunklen, durch eine Flüssigkeit verursachten Flecken befinden sich fast ausschließlich am unteren Seitenrand. Nur bei wenigen Blättern befinden sich die Verfärbungen am oberen Seitenrand, was dafür spricht, dass sie für eine nachfolgende Bindung neu angeordnet, also kopfüber gedreht wurden (Abb. 6). Zudem handelt es sich bei dem Ledereinband des Manuskriptes höchstwahrscheinlich nicht um eine orientalische, sondern eine europäische Anfertigung. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Buchhändler, die der arabischen Schrift nicht kundig waren, die verschiedenen Blättergruppen erwarben und mit der Absicht zusammenbinden ließen, möglichen Käufern ein ansprechenderes Manuskript anzubieten. Vielleicht zielten sie sogar auf Käufer wie Zacharias Conrad von Uffenbach ab, die mit orientalischen Sprachen nicht sehr vertraut waren. Die von den Buchbindern hinterlassenen Spuren deuten folglich darauf hin, dass das Büchlein nicht im Orient, sondern in Europa zusammengestellt wurde.
Literatur
- Bertheau, Carl (1898), „Wolf, Johann Christoph“, Allgemeine Deutsche Biographie 44, 545–58.
- Günaydın, Yusuf Turan und İbrahim Halil Arslantürk (2007), „Gelibolu Mustafa Âlî’nin Hilyetü’r-Ricâl’inde Melâmiyyûn ve Muhaddesûn Zümreleri“, Tasavvuf: İlmî ve Akademik Araştırma Dergisi 8.18, 277–96.
- Jung, Rudolf (1895), „Uffenbach, Zacharias Konrad von“, Allgemeine Deutsche Biographie 39, 135–7.
- Majus, Johann Heinrich und Zacharias Conrad von Uffenbach (Hrsg.) (1720), Bibliotheca Uffenbachiana Mssta Seu Catalogus Et Recensio Msstorum Codicum Qui In Bibliotheca Zachariae Conradi Ab Uffenbach Traiecti Ad Moenum Adservantur Et In Varias Classes Distinguuntur, Teil 3: […] Codices Orientales Reliquos Per Carolum Dadichi Antiochenum Maximam Partem Designatos, Halae Hermundurorum [Halle]: Novum Bibliopolium.
- Seybold, Christian F. (1910), „Der gelehrte Syrer Carolus Dadichi († 1734 in London), Nachfolger Salomo Negri’s († 1729)“, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 64, 591–601.
- Sobieroj, Florian (2006), „Repertory of Sūras and Prayers in a Collection of Ottoman Manuscripts“, Mélanges de l'Université Saint-Joseph 59, 365–86.
- Sobieroj, Florian (2007), „Gebete in Handschriften der 'Türkenbeute' als Quellen der islamischen Religions- und Sozialgeschichte“, Archivum Ottomanicum 24, 61–80.
- Stadtbibliothek zu Hamburg (Hrsg.) (1908): Katalog der Handschriften in der Stadtbibliothek zu Hamburg, Bd. 3: Katalog der orientalischen Handschriften der Stadtbibliothek zu Hamburg mit Ausschluß der Hebräischen, Teil 1: Die arabischen, persischen, türkischen, malaiischen, koptischen, syrischen, äthiopischen Handschriften, beschrieben von Carl Brockelmann, Hamburg: Otto Meissners Verlag.
Kurzbeschreibung
Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky
Signatur: Cod. orient. 5
Zusammensetzung: 7 Gruppen von Blättern, jede Gruppe bestehend aus Teilen eines anderen Manuskriptes (composite manuscript); nur eine Gruppe mit Datumsverweis, 13. Muharrem 954 AH, i.e. 6. März 1547
Material: 249 Blätter, Papier, durchschnittliche Maße: 10,3 × 7,5 cm; Ledereinband, Maße: 10,6 × 8 × 3,7 cm
Herkunft: Zeitpunkt und Ort der Bindung: vermutlich zwischen dem späten 16. Jahrhundert und frühen 18. Jahrhundert in Europa
Text von Janina Karolewski
© für alle Bilder: Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky