Nr. 09
Warum Mekka?
Das Werk Dalāʾil al-ḫayrāt ist eine der wichtigsten und verbreitetsten islamischen Gebetssammlungen. Es ist von Marokko, wo es verfasst wurde, bis weit nach Südostasien bekannt, und weltweit gibt es mehrere tausend Abschriften, die dieses Werk enthalten. Ein Münchener Kodex von 1857 aber auch einige andere Manuskripte sowie verschiedene Druckausgaben zeigen nach dem Vorwort eine doppelseitige Illustration der heiligen Stätten Mekka und Medina. Manuskripte dieser Art stehen am Ende einer längeren Entwicklung, die bei nicht illustrierten Abschriften der Dalāʾil al-ḫayrāt begann. Doch warum werden Mekka und Medina abgebildet, obwohl Mekka gar nicht Gegenstand der Gebetsammlung ist?
Dalāʾil al-ḫayrāt („Wegweiser zu guten Taten“), eine Sammlung von Gebeten, Fürbitten und Segenswünschen für den Propheten Muḥammad, ist das Hauptwerk des marokkanischen Mystikers al-Ǧazūlī (gest. um 1465). Es ist eine der am häufigsten kopierten und kommentierten Schriften religiösen Inhalts. Da der Fokus auf dem Propheten Muḥammad liegt, der als Verkünder des Islam eine besondere Verehrung genießt, wurde stets viel Wert auf die optische Gestaltung von Abschriften der Dalāʾil al-ḫayrāt gelegt. Häufig wurden sie sogar in einer Art gestaltet, die der des Koran entspricht: Goldrahmen, illuminierte Eröffnungsseiten, goldene Trennzeichen zwischen Abschnitten oder Aufzählungen und prachtvolle Einbände.
In einer Passage zu Beginn des Textes wird der Bestattungsort des Propheten Muḥammad in Medina thematisiert. Das Grab wird beschrieben und die Stelle, an der es sich in der Moschee befindet, wird benannt. Überdies wird über die Gräber seiner zwei Gefährten Abū Bakr und ʿUmar berichtet. Dieser Passus hat anscheinend Kopisten und Illuminatoren angeregt, dem ursprünglich wohl nicht illustrierten Text eine einseitige, häufig sehr schematische Abbildung Medinas mit den Grabkammern hinzuzufügen.

Seit dem frühen sechtzehnten Jahrhundert findet man zunehmend Manuskripte der Dalāʾil al-ḫayrāt, in denen die einseitige Illustration durch eine weitere, gegenüberliegende Abbildung Medinas ergänzt wurde, die die Kanzel (minbar) und die Gebetsnische (miḥrāb) in der Prophetenmoschee (al-masǧid an-nabawī) zeigt. Diese Art der doppelseitigen Darstellung entspricht der Vorliebe für geometrische Konstruktionen und Symmetrie, die sich auch in der Gestaltung vieler anderer Abschriften von Texten ganz unterschiedlicher Thematik zeigt.
Dass allerdings, wie in dem Münchener Kodex, Mekka auf der gegenüberliegenden Seite abgebildet wird, ist eine jüngere Erscheinung, die so in früheren Abschriften nicht zu finden ist (fol. 13v, Abb. 2). Auch wenn das Konzept der doppelseitigen Illustration beibehalten wurde, ist die Gegenüberstellung von Mekka und Medina ein interessantes Phänomen, wenn man bedenkt, dass Mekka nicht Gegenstand der Dalāʾil al-ḫayrāt ist. Folglich muss der Grund für diese Neuerung außerhalb des Textes gesucht werden.

Manuskripte dieser Art wurden seit dem späten achtzehnten/frühen neunzehnten Jahrhundert und ausschließlich im Osten der arabischen Welt hergestellt. Dieser Wandel in der Illustrationsweise deckt sich zeitlich und regional mit dem Aufkommen einer konservativen, militanten Bewegung des sunnitischen Islam, der Wahhābīya. Anhänger dieser Richtung stellen heute die größte religiöse Gruppe in der Bevölkerung Saudi-Arabiens dar und ihre Lehre ist Staatsdoktrin. Sie sprechen sich strikt gegen verschiedene Formen des Volksglaubens aus und lehnen stärkere Formen der Prophetenverehrung ebenso ab wie den Gräberkult und die Verehrung verstorbener Heiliger. Dies war ein weitverbreiteter Brauch in der gesamten islamischen Welt geworden.

Dass nun Mekka und Medina auf gegenüberliegenden Seiten in den Manuskripten der Dalāʾil al-ḫayrāt abgebildet wurden, resultiert vermutlich aus besagter Kritik an ausgeprägten Formen der Prophetenverehrung und am Gräberkult, was man in zwei Abbildungen von Medina mit der Prophetenmoschee und den Gräbern zu erkennen glaubte. Damit scheint assoziiert worden zu sein, dass der Prophet Muḥammad und nicht Allāh im Zentrum der Verehrung steht. Denkbar ist, dass man mittels einer Abbildung von Mekka mit der Kaʿba, dem Haus Gottes, beabsichtigte, dem vermeintlichen Missverhältnis zwischen der Propheten- und der Gottesverehrung zu begegnen. Für die These, dass der Widerstand gegen den Gräberkult und die Verehrung verstorbener Heiliger Motiv für den Illustrationswandel war, spricht die Tatsache, dass nicht mehr nur die Gräber, sondern, wie auch in diesem Manuskript, ganze Gebäude abgebildet wurden, die seit dem neunzehnten Jahrhundert auch perspektivisch gezeichnet wurden.
Der im Jahr 1857 vermutlich in Istanbul angefertigte Münchener Kodex steht am Ende einer längeren Entwicklung, die sich insgesamt über vier Jahrhunderte erstreckt. Er ist Zeugnis für die Etablierung einer neuen politisch und religiös einflussreichen Bewegung, die die Manuskriptgestaltung im Osten der arabischen Welt augenscheinlich nachhaltig beeinflusst hat.

Was dieses Manuskript überdies sehr interessant macht: Das gesamte Manuskript ist im Stil des sogenannten türkischen Rokoko gestaltet. Sowohl die geometrischen und floralen Elemente (fol. 1v, Abb. 3) als auch die naturalistischen, perspektivischen Landschafts- und Stadtansichten sind charakteristisch für die osmanische Kunst und Architektur seit Mitte des 18. Jahrhunderts und geben europäischen Einfluss deutlich zu erkennen. Ein interessantes Detail ist zudem die explosionsartige Licht- oder Goldfontäne über der Kuppel der Prophetenmoschee, die die Heiligkeit des Ortes versinnbildlicht (fol. 14r, Abb. 4). Obwohl Mekka auf der gegenüberliegenden Seite abgebildet ist, wird das Augenmerk des Betrachters wieder auf Medina, die Prophetenmoschee und die sich darin befindlichen Gräber gelenkt. Dadurch wird der unmittelbare Bezug zum Text wieder hergestellt.
Literatur
- Ben Cheneb, Mohammad (1965), „al-Djazūlī“, in B. Lewis, CH. Pellat und J. Schacht (Hrsg.), The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. II, Leiden: Brill, 527f.
- Johnson, Kitty (2010), „An Amuletic Manuscript: Baraka and Nyama in a Sub-Saharan African Prayer Manual”, in Christiane Gruber (Hrsg.), The Islamic Manuscript Tradition. Ten Centuries of Book Arts in Indiana University Collections. Bloomington: Indiana University Press, 251-272.
- Peskes, E. und Ende, W. (2002), „Wahhābiyya“, in B. Lewis, CH. Pellat und J. Schacht (Hrsg.), The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. XI, Leiden: Brill, 39-47.
- Rebhan, Helga (2010), Die Wunder der Schöpfung. Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek aus dem islamischen Kulturkreis, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 216f.
- Witkam, Jan Just (2007) „The Battle of the Images. Mekka vs. Medina in the Iconography of the Manuscripts of al-Jazūlī’s Dalāʾil al-Khayrāt”, in Judith Pfeiffer und Manfred Kropp (Hrsg.), Theoretical Approaches to the Transmission and Edition of Oriental Manuscript,. Beirut: Orient Institut, 67-82.
Kurzbeschreibung
Signatur: Cod.arab. 2673
Herkunft: Istanbul?, 1857, Erworben 1987
Material: Papier, 87 Folios, 20 × 12,5 cm, Illuminiert, mit Illustrationen
Sprache: Arabisch
Text von Frederike-Wiebke Daub
© aller Bilder: Bayerische Staatsbibliothek München