Nr. 07
Der seltene Fall eines benutzerfreundlichen tamilischen Manuskripts
Tamilische Manuskripte von Kommentaren, etwa zu grammatikalischen Abhandlungen oder Literaturtexten, stellen eine Herausforderung für den Leser dar. In der Regel sind in Manuskripten enthaltene tamilische Texte in einer Art scriptio continua geschrieben, d. h. in einer Schreibweise ohne Worttrennung, die kaum Interpunktion verwendet. Eine weitere Schwierigkeit bedeutet im Falle eines Kommentars (auf Tamilisch urai) die Aufgliederung des Urtextes (auf Tamilisch mūlam oder pātam) in kleine Abschnitte, wobei auf jeden einzelnen Abschnitt Erklärungen folgen. Falls ein Leser eine bestimmte Stelle im Kommentar nachschlagen möchte, wird es für ihn schwierig sein, diese schnell zu finden, da er Seiten durchsuchen muss, die vollständig mit Schriftzeichen beschrieben sind. Hat sich jemals ein Kopist, der mit der Abschrift tamilischer Manuskripte beschäftigt war, über die Benutzerfreundlichkeit eines Kommentars für zukünftige Leser Gedanken gemacht und Lösungen bereit gestellt?
Es gab zumindest in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einen solchen Kopisten, wie ein Palmblattmanuskript mit dem Text und Kommentar zum Tirumurukāṟṟuppaṭai zeigt, das gemäß seiner Titelseite Parimēlaḻakiyar zugeschrieben wird (Abb. 1: Vinson 1867: 21 datiert das Manuskript auf ca. 1830). Dieses Manuskript war einst Teil der Privatsammlung von Édouard Ariel (1818-1854), Kolonialverwalter in Pondicherry, und wurde von ihm an die Asiatische Gesellschaft in Paris vererbt. Heute ist es im Besitz der Französischen Nationalbibliothek.
Das Tirumurukāṟṟuppaṭai („Weisen des Wegs zu Gott Murukaṉ“) wurde vermutlich im siebten Jahrhundert verfasst. Es ist ein Gedicht mit 317 Versen, das der Verehrung Murukaṉ gewidmet ist, ein wichtiger hinduistischer Gott in der Tamil-Region. Sowohl die große Anzahl an erhalten gebliebenen Manuskripten als auch zahlreiche Kommentare zeugen von der Bedeutung dieses Textes.
Das Manuskript aus der Französischen Nationalbibliothek ist sehr außergewöhnlich, weil der Kommentar nicht das übliche Format aufweist, wie oben beschrieben. Es ist in scriptio continua verfasst, doch Urtext und Kommentar sind klar voneinander getrennt und befinden sich jeweils in einem ganz bestimmten Bereich jeder Seite. Der Titel des Werkes spiegelt dies wider, da er nicht einfach nur „Kommentar (urai) zum Tirumurukāṟṟuppaṭai“ lautet, sondern „Kommentar (und) Text (urai-pātam) zum Tirumurukāṟṟuppaṭai“, wie auf der Titelseite angegeben (Abb. 1). In Anbetracht des Datums dieses Manuskripts könnte man sich fragen, ob der Kopist von den Druckausgaben klassischer tamilischer Texte beeinflusst wurde, deren Veröffentlichung ebenfalls in diesem Zeitraum begann, in dem neue und klarere Methoden der Darstellung von Texten auf einer Seite eingeführt wurden.
Im vorliegenden Manuskript sind die Seiten - mit Ausnahme der ersten Seite (Abb. 2), die nicht den Text des eigentlichen Kommentars enthält, sondern einen Segensspruch (im linken Randbereich) und zwei später hinzugefügte Strophen - in der Tat in zwei Hälften gegliedert (Abb. 3): der kommentierte Text befindet sich auf der linken Seite, während der Kommentar auf der rechten Seite zu finden ist. Außerdem werden auf beiden Seiten geschweifte Klammern verwendet, um genau anzugeben, auf welche kommentierte Textstelle sich welcher Teil des Kommentars bezieht.
Eine weitere Vereinfachung für den Leser wäre eine metrische Anordnung des Textes gewesen, d.h. ein Vers pro Zeile (zum Beispiel auf der Rückseite von Blatt 10 stimmt lediglich in den Zeilen 3 und 6 der Beginn der Zeile mit dem Beginn eines Verses überein, s. Abb. 3). Dies war im vorliegenden Fall jedoch nicht möglich, da der Kommentar zu einem Vers sich gelegentlich mit Wörtern des vorhergehenden bzw. nächsten Verses überschneidet.
Der Kommentar selbst wird gemäß seiner Titelseite (Abb. 1) Parimēlaḻakiyar zugeschrieben, wohingegen wir Kenntnis von einem von Parimēlaḻakar (dreizehntes Jahrhundert?) verfassten Kommentar haben, der auch als Verfasser von Kommentaren zu anderen klassischen tamilischen Texten bekannt ist. Der von Parimēlaḻakar verfasste Kommentar zum Tirumurukāṟṟuppaṭai wurde mindestens zweimal veröffentlicht, ist nach dem jüngsten Forschungsstand jedoch nur noch in einem einzigen Manuskript enthalten (U. V. Swaminatha Iyer Library, Chennai, acc. no. 1072). Mehrere Gelehrte hielten den Kommentar für unecht. In der Tat weisen die Kommentare von Parimēlaḻakiyar aus Paris und Parimēlaḻakar aus Chennai nicht denselben Text auf. Daraus lässt sich entweder schließen, dass es sich bei Parimēlaḻakiyar und Parimēlaḻakar nicht um ein und dieselbe Person handelt, oder dass beide Kommentare späteren Datums sind und fälschlicherweise Parimēlaḻakiyar, dem berühmten Verfasser von Kommentaren, zugeschrieben wurden.
Das Pariser Manuskript zeugt von der Sorgfalt, die der Kopist (bzw. die Person, die die Abschrift in Auftrag gab) im Hinblick auf den Leser angewendet hat. Aufgrund des gegenwärtigen Wissensstands über Tamil-Manuskripte sind wir nicht in der Lage, festzustellen, ob es sich dabei wirklich um einen Einzelfall handelt. Von den siebzehn uns zur Verfügung stehenden Manuskripten, die Kommentare zum Tirumurukāṟṟuppaṭai enthalten, ist das Pariser Manuskript jedoch das einzige, das Text und Kommentar in einer so außergewöhnlichen Weise voneinander trennt. Selbst heute ist ein Leser dem aufmerksamen und bedachten Kopisten noch dankbar.
Literatur
- Rosny, Léon de (1869): „La bibliothèque tamoule de M. Ariel, de Pondichéry”, in: Variétés orientales, 2. Auflage, Paris: Maisonneuve, 177–224.
- Vinson, Julien (1867): Manuscrits tamouls, [Paris: Bibliothèque Nationale].
Kurzbeschreibung
Paris, Bibliothèque Nationale de France
Signatur: Indien 66
Material: Palm-Blatt, 36 Blätter (Titelblatt; 1 Blatt nicht nummeriert; 34 Blätter mit ursprünglicher Nummerierung von 1 bis 34)
Maße: 36,5 × 3 cm
Herkunft: Tamil Nadu (Indien), ca. 1830
Text von Emmanuel Francis
© aller Bilder: Bibliothèque Nationale de France (BNF) .