Buddhistische Amulette altuigurischer Sprache
Yukiyo Kasai
Amulette haben in vielen Kulturen eine lange Tradition. Die handgefertigten und meist kleinen Gegenstände sollen Zauberkraft besitzen, die dem Träger Schutz und Glück bringt. Die fragmentarische Schriftrolle mit der Signatur ВФ-4203 ist selbst kein Amulett. Trotzdem ist sie ein außergewöhnliches Beispiel für die Nutzung solcher Objekte und deren Verbreitung über Kulturgrenzen hinweg. Was war der Zweck dieses Manuskripts und wie ist es entstanden?

Im Berliner Museum für Asiatische Kunst ist die Schriftrolle nur noch durch vier einzelne Fotos mit den Signaturen B 2288–2291 dokumentiert (Abb. 1). Sie war Teil der dortigen Turfansammlung, welche aus den Funden der preußischen archäologischen Expeditionen in Zentralasien (1902–1914) besteht. Die Fundortsignatur der Schriftrolle, T II Y 51, weist darauf hin, dass sie in Yarhoto in Turfan (heute: im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang der Volksrepublik China) gefunden wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg galt das Manuskript lange als verloren. Doch durch die Zusammenarbeit von deutschen und russischen Wissenschaftlern wurde sie 2016 in der Eremitage in St. Petersburg wiedergefunden. Dort wird die Schriftrolle nun unter der Signatur ВФ-4203 aufbewahrt.
Bei dem Manuskript handelt es sich um eine fragmentarisch erhaltene Papierrolle mit den Maßen 192,6 cm × 29,8 cm. Auf der Vorderseite befinden sich Amulette, meist mit chinesischen Schriftzeichen, darunter kurze Erläuterungen auf Altuigurisch, geschrieben in der senkrechten uigurischen Schrift. Die Verwendung des Altuigurischen und der uigurischen Schrift lassen vermuten, dass die Rolle zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert hergestellt wurde, als die Uiguren beide verwendet haben.
Die Amulette beziehen sich nicht auf ein spezifisches Thema wie zum Beispiel die Heilung von Krankheiten, sondern decken unterschiedliche Bereiche ab, vom Schutz vor negativen Erfahrungen wie der Begegnung mit bösen Geistern, falschen Anschuldigungen, der schweren Geburt eines Kindes bis hin zu Schutz für Menschen, die in einer bestimmten Jahreszeit geboren wurden. Die Amulette sind auf keine erkennbare Weise geordnet. Zudem nennen die altuigurischen Anmerkungen zwar die Wirkung der Amulette, doch sie erklären nicht, wie sie in der Praxis verwendet wurden.
In der Mitte der Rolle befindet sich eine Notiz (Abb. 2):
„Ich, Konımdu, habe dies ergebenst geschrieben, damit es den Späteren (von) Nutzen sei.“
Da sich die Handschrift dieses Satzes von der des restlichen Textes leicht unterscheidet, könnte er später hinzugefügt worden sein. So weiß man zwar, dass Konımdu die Schriftrolle in der Hand hatte, doch es bleibt unklar, ob er sie tatsächlich auch vollständig geschrieben hat. Im Grunde wissen wir nichts über diesen Mann, über seinen Status oder sein Leben. Doch sein Name deutet an, in welchem Kontext die Schriftrolle zu verorten ist. Der Name Konımdu geht auf Chinesisch guanyin nu 観音奴 zurück und bedeutet „Sklave von Guanyin“. Da Guanyin der Name eines Bodhisattva ist, weist der Name des Schreibers somit auf seine Verbindung zum buddhistischen Glauben hin. Aber wie haben die uigurischen Buddhisten diese Amulette verwendet? Woher hatten sie die Amulette mit chinesischen Zeichen in dieser Schriftrolle?

In der buddhistischen Kultur ist der Gebrauch von Amuletten weitverbreitet. Man glaubt, dass mit ihren Kräften ein Wunsch, zum Beispiel der nach einem Kind oder einer sicheren Geburt in absehbarer Zeit, also noch zu Lebzeiten des Wünschenden, erfüllt werden kann. Dazu wird ein passendes Amulett gewählt und häufig auf ein Stück Papier gezeichnet. Damit das Artefakt seine Wirkung entfalten kann, wird es beispielsweise am Körper getragen oder in ein Gebäude gehängt. Es kann auch verbrannt und in Form von Asche mit Flüssigkeit eingenommen werden. Dies waren wahrscheinlich auch die Anwendungsmethoden der Uiguren. Die Uiguren, die im Turfan-Gebiet leben, sind heute als Muslime bekannt. Von der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts (oder dem Beginn des 11. Jahrhunderts) bis zum 14. Jahrhundert waren sie jedoch mehrheitlich Buddhisten. Während dieser Zeit hinterließen sie im Turfan-Gebiet Zeugnisse ihrer buddhistischen Praktiken, zu denen auch die besagte Schriftrolle zählt.
Im Allgemeinen sind Abbildungen von Amuletten in altuigurischen Texten generell äußerst selten erhalten, sodass die Bedeutung dieser Schriftrolle zusätzlich zu unterstreichen ist. Die Herkunft der einzelnen Amulette ist nicht bekannt, doch aufgrund der Präsenz entsprechender Schriftzeichen ist eine chinesische Vorlage wahrscheinlich.
Für die uigurischen Buddhisten war der chinesische Buddhismus die Hauptquelle, und die Mehrheit der altuigurischen buddhistischen Texte wurde aus dem Chinesischen übersetzt. Dabei hatte Dunhuang, eine Nachbaroase von Turfan, eine besondere Stellung inne, denn die Uiguren unterhielten mit den chinesischen Buddhisten dieser Oase eine enge Beziehung und nahmen viele ihrer Ideen und Praktiken an. Auch in Dunhuang ist der Gebrauch von Amuletten belegt. Vor allem ein Text ist hier beachtenswert, der unter dem Titel Foshuo qiqian fo shenfu jing 佛說七千佛神符經 [Sūtra of the Divine Talismans of the Seven Thousand Buddhas, Preached by the Buddha] bekannt ist. Dieser Text ist in sieben Handschriften aus Dunhuang (Or. 8210/S. 2708, Or. 8210/S. 4524, P. 2153, P. 2558, P. 2723, P. 3022 recto, P. tib. 2207) überliefert, was auf seine weite Verbreitung hinweist. Angesichts fehlender früherer Erwähnungen ist eine Entstehung ab dem 7. Jahrhundert anzunehmen.
Der Text erörtert zuerst den Schutz, den die Buddhas der Menschheit gewähren sowie spezifische Unglücksfälle wie Verfluchung. Danach folgt eine kurze Beschreibung der durchnummerierten Amulette, die am Ende mit Titel abgebildet sind. Dieser Teil unterscheidet sich deutlich von der altuigurischen Schriftrolle, die nur die Abbildungen der Amulette und die kurzen Anmerkungen zu ihrer Wirkung enthält. Jedoch sind einige Abbildungen des chinesischen Textes auch in der uigurischen Schriftrolle zu finden. Ein Beispiel dafür ist das Amulett, welches das menschliche Leben gegen die mörderischen Aji (阿姬) Dämonen und gegen Hinfälligkeit schützt (Abb.en 3 und 4). In der altuigurischen Schriftrolle ist die Erläuterung zum Amulett nicht vollständig erhalten, nur die zwei Wörter beš „fünf“ – der Nummerierung in der chinesischen Vorlage entsprechend – und vu „Amulett“ sind zu lesen. Das Amulett selbst stimmt jedoch mit der Form überein, die auch in den Manuskripten aus Dunhuang zu finden ist.


Doch nur wenige der Amulette in der altuigurischen Schriftrolle finden sich in diesem chinesischen Text. Die Herkunft der meisten anderen Amulette bleibt bislang unklar. Somit enthält die Schriftrolle keine wortgetreue Kopie oder Übersetzung eines chinesischen Textes, der uns bekannt ist. Darauf deutet auch der Mangel an genaueren Erklärungen der einzelnen Amulette hin. Vielmehr ist anzunehmen, dass man verschiedene Amulette aus unterschiedlichen Quellen gesammelt und in diesem Manuskript zusammengestellt hat. Mithilfe der Rolle konnte ihr Besitzer schnell ein passendes Amulett finden und verwenden. Das war wahrscheinlich der Zweck dieser Schriftrolle.
Diese Schriftrolle ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die uigurischen Buddhisten je nach Bedarf Ideen aus verschiedenen Quellen ausgewählt und ihre buddhistische Kultur aufgebaut und praktiziert haben.
Literatur
Kasai, Yukiyo (2021), ‘Talismans Used by the Uyghur Buddhists and Their Relationship with the Chinese Tradition’, Journal of the International Association of Buddhist Studies 44: 527–556.
Knüppel, Michael (2013), Alttürkische Handschriften. Teil 17: Heilkundliche, volksreligiöse und Ritualtexte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 197–199, No. 250–253.
Pchelin, Nikolai und Simone-Christiane Raschmann (2016), ‘Turfan Manuscripts in the State Hermitage–A Rediscovery’, Written Monuments of the Orient 2: 3–43.
Rachmati, Gabdul Rasid (1936), Türkische Turfan-Texte VII, Berlin: Akademie der Wissenschaften, 37–38.
Zieme, Peter (2005), Magische Texte des uigurischen Buddhismus. Berliner Turfantexte XXIII, Turnhout: Brepols, 179–185.
Beschreibung
Standort: Hermitage Museum (alte Fotos im Museum für Asiatische Kunst, Berlin)
Signatur: ВФ-4203 (Fundortsignatur: T II Y 51)
Material: Tusche auf Papier
Maße: 192,6 cm x 29,8 cm
Herkunft: 11. bis 14. Jahrundert, Yarhoto (nach der Fundortsignatur)
Urheberrechtshinweise
Copyright für die Abbildungen: Museum für Asiatische Kunst (B 2288 and 2290) und Bibliothèque Nationale de France (P. tib. 2207)
Zitierhinweis
Yukiyo Kasai, Buddhistische Amulette altuigurischer Sprache. In Leah Mascia, Thies Staack (eds): Artefact of the Month No. 29, CSMC, Hamburg.