Im Krieg und im Liebesbrief ist alles erlaubt
Ein ungewöhnlicher Brief von Ludwig Börne an Jeanette Wohl
Sophia Victoria Krebs
Börne ist 35 Jahre alt, als er – wieder einmal – an Jeanette Wohl schreibt. Die beiden sind seit vielen Jahre gut befreundet; es knistert zwischen ihnen, aber ihre Hochzeitspläne bleiben Phantasie. Diesen Brief, am 8. Dezember 1821 begonnen und am 10. beendet, verfasst Börne, nachdem er bereits mehrere Tage vergeblich auf Nachricht von ihr gewartet hat und auch die letzte Postsendung nicht ihre ersehnte Antwort enthielt. Es ist ein beispielhafter Brief für den Beginn des 19. Jahrhunderts, in dem Börne seiner Frustration doch auf sehr individuelle Art Luft machte. Er straft Jeanette Wohl mit einer ungewöhnlichen (Brief-)Form.
Ludwig Börne, 1786 in der Frankfurter Judengasse unter dem Namen ,Juda Löw Baruch‘ geboren, wird als erster deutscher Journalist angesehen. Mit seinem witzig-ironischen Schreibstil gilt er als der Wegbereiter des literarischen Vormärz, einer Strömung, die in Opposition zum konservativen Biedermeier stand. Die drei Jahre ältere Jeanette Wohl, ebenfalls Frankfurter Jüdin, lernte er 1816 kennen. In den ersten Jahren wechselte die Beziehung der beiden zwischen vertraut-familiär und innig-amourös; letztlich entwickelte sich aber eine tiefe und literarisch produktive Freundschaft, die sich auch an ihren Briefen ablesen lässt. Über Jahre hinweg hielten sie eine rege Korrespondenz, viele ihrer Briefe publizierten sie nachträglich.
Zum Zeitpunkt unseres Briefes vom 8. und 10. Dezember 1821 kennen sich die beiden seit fünf Jahren, korrespondieren seit drei Jahren – und sprechen sich noch immer mit ‚Sie‘, ‚Doktor Börne‘ und ‚Fräulein Wohl‘ an. Diese Distanzmarker sind reine Koketterie, denn der Rest des Manuskripts spricht eine andere Sprache.
Wohl befand sich in der gemeinsamen Frankfurter Heimat, Börne auf Reisen in München. Zu dieser Zeit kam die Post zwei Mal wöchentlich in München an, die Posttage strukturierten die Woche. Den letzten Brief von Wohl hatte Börne am 3. Dezember, also fünf Tage zuvor, empfangen und bereits am 5. und 6. Dezember beantwortet. Obwohl er auf diesen letzten Brief noch keine Antwort erhalten hatte, begann er ungeduldig unseren Brief gleich am Samstag, den 8. Dezember, und berichtet von kleineren Begegnungen und einer Erkrankung. Als am darauffolgenden Montag, den 10. Dezember, noch immer keine Antwort von Wohl eintraf, wurde Börne ungehalten:
‘Schlingel, abscheulicher! Also heute keinen Brief‘
Einen Brief zu schreiben, erforderte um 1820 nicht nur die Schreibfähigkeit des Absenders, sondern auch handwerkliches Geschick. Die Tinte musste angerührt, die Gänsefeder fachgerecht bearbeitet und das Papier – in der richtigen Größe – zugeschnitten werden. Außerdem mussten viele Regeln beachtet werden, um nicht unhöflich oder ungebildet zu wirken: Zum Beispiel gehörte der Rand umso breiter, je sozial angesehener der Empfänger war. Auch die Platzierung des Datums spielte eine Rolle: An angesehene Empfänger setzte man Ort und Datum links neben die Unterschrift ans Briefende; nur an Gleichgestellte oder Geschäftspartner war das ‚Kaufmannsdatum‘ oben rechts legitim.
In unserem Brief lässt sich das vertraute Verhältnis zwischen Börne und Wohl direkt am Material erkennen. In ordentlicher, nur 2,5 mm hoher Kurrentschrift sparte sich Börne eine separate Anrede. Er notiert eine eigens vergebene Briefnummer (links oben), die sowohl dazu diente, auf vorherige Briefe verweisen zu können, als auch zur Kontrolle, ob tatsächlich sämtliche Briefe eintrafen. Mittig findet sich in Bleistift ein Archivvermerk, rechts oben wieder von Börnes Hand Ort und Datum. Er beginnt mit:
‘Heute Samstag ist Mariä Empfängnis; das geht uns aber nichts an’
Oberhalb sowie rechts und links vom Text wird kaum Platz gelassen, denn der sogenannte ,Respektraum‘ ist hier nicht notwendig. Auch seine Unterschrift am Briefende setzt er ganz nah an den Text – hier ist kein materieller oder sozialer Abstand auszumachen (Abb. 2). Unterzeichnet ist der Brief mit ‚Dr. Börne, geb. Wohl.‘; eine Neckerei und ein Hinweis auf ihre enge Beziehung.
Börne benutzt für seinen Brief einen größeren Bogen Papier, der an der langen Seite gefaltet wurde. So ergeben sich vier Seiten, die unterschiedlich verwendet werden. Zu dieser Zeit ist auch die Art der Briefverpackung geregelt: Zur Auswahl stand normalerweise ein selbst hergestelltes Kuvert – fertig erwerbliche Briefumschläge wurden erst 40 Jahre später flächendeckend eingeführt – oder, wie in unserem Fall, die sogenannte ,Paketfaltung‘. Bei dieser sind, wie bei Börnes Brief zu sehen, die ersten drei Seiten für den Brieftext verwendbar (wobei Börne nur zwei davon nutzte), während die letzte Seite frei bleiben muss, da sie nach der Faltung als Außenseite des Briefs dient. Somit wird der Brief ,durch sich selbst‘, also mit der unbeschrieben gebliebenen vierten Seite, verschlossen und anschließend versiegelt. Standen sich Sender und Empfänger nah genug, so wie Börne und Wohl, war der Einsatz dieser papiersparenden Versandart akzeptiert.
Der Brief ist adressiert ‚An Frau Jeanette Wohl bei Hrn. Dr. Stiebel an der schönen Aussicht in Frankfurt a/m‘ (Abb. 3). Börne hat keine Absenderadresse angegeben, denn das war erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts üblich; vorher erkannten Empfänger den Absender am Siegel und an der Handschrift. Auf der Adressseite sind außerdem Post- und Taxvermerke notiert. Unten links schrieb Börne ‚frei.‘. Dies bedeutet, dass der Brief vollständig frankiert wurde (was zusätzlich vom Postamt mit dem ‚P.P.‘-Stempel, also ‚Porto Payé‘, bestätigt wurde). Die Durchkreuzung der Adresse geschah auf dem Postamt und stellt ein liegendes ,X‘ dar; dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Gebühr vollständig entrichtet wurde und der Empfänger nichts mehr (zusätzlich) zahlen musste. Rechts ist, kopfstehend, die seitens des Postamts notierte Taxe von 2/16 zu lesen, wobei die Zahl im Zähler die bayrische Taxe, die im Nenner das Weiterfranko bezeichnet.
Durch die Paketfaltung war der Brief leichter und dadurch günstiger. Allerdings lief man stets Gefahr, dass beim Öffnen der Brief beschädigt werden konnte. Besonders gefährdet war dabei die dritte Seite, die die Rückseite des Umschlags bildet. Schrieb man wie Börne nämlich aufgrund der sozialen Nähe bis weit an den Rand, ergaben sich beim Brechen des Siegels zwangsläufig sogenannte ,Siegelausrisse‘, wie auf der dritten Seite unseres Briefes zu sehen ist (Abb. 2). Der umseitige Text des gesiegelten Papiers ging dabei häufig verloren, da er mit dem Siegellack oder – wie hier – mit einer Siegeloblate (einer Siegelalternative aus Teig) verklebt war. Der Siegelausriss kann durch behutsames Öffnen mit Scheren und Messern verhindert, oder mindestens verkleinert werden – so wie Börne es in seinem Brief beschreibt:
‘Da Ihre Briefe so fest und mannichfaltig verwahrt sind, so lege ich um die Stunde wo ich weiß, daß die Post kömt, große und kleine Scheeren, große und kleine Messer zurecht. Es sieht gerade aus, als hätte ich eine bedeutende chirurgische Operation zu unternehmen. Kömmt der Brief, dann wird mit aller möglichen Vorsicht geschnitten, damit keiner der edlen Theile verletzt werde.’
Aber vergebens war die Liebesmüh, es war ja kein Brief gekommen.
Seinem Ärger über die unnötigen Vorbereitungen macht er mit einer ungewöhnlichen Raumgestaltung Luft. Im zweiten Drittel der ersten Seite beginnt er, die Schriftbreite Zeile um Zeile zu verringern, bis nur noch ein Wort mittig in der Zeile steht. Erst im Anschluss verbreitert er die Zeilen wieder. So ergibt sich die ungewöhnliche Sanduhrenform des Textes der ersten Seite (Abb. 1). Diese Form kommentiert er gegenüber Wohl auch und leitet sie wie folgt ein:
‘Ich hoffe, mein Herzchen, daß Sie sich über diese neue Art zu schreiben, wobei jede Zeile immer weniger Worte enthält, stark ärgern werden. Das ist auch meine Absicht, denn ich will mich rächen, weil Sie mir heute nicht geschrieben haben.’
Im unteren, wieder zunehmenden Part ist Börne jedoch wieder besänftigt und besinnt sich auf seine Zuneigung zu Wohl.
‘Sie sehen mein Zorn hat abgenommen, und meine Liebe zu Ihnen wächst wieder. Ach für diese ist kein Papier breit genug!’
Wohl würdigt in ihrer nur vier Tage später eintreffenden Antwort seine kreative Spielart keines besonderen Kommentars; sie schreibt dem vormals Erkrankten lediglich:
‘Ich bin beruhigt durch Ihren scherzhaften Brief, der die Farbe der Gesundheit trägt [...]’
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Literatur
- Heuer, Renate und Andreas Schulz (Hrsg.) (2012), Ludwig Börne – Jeanette Wohl. Briefwechsel (1818–1824). Edition und Kommentar, Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 328–332 (= Nr. 82).
- Jaspers, Willi (1989), Keinem Vaterland geboren. Ludwig Börne. Eine Biographie, Hamburg: Hoffmann und Campe.
- Nachgelassene Schriften von Ludwig Börne. Herausgegeben von den Erben des literarischen Nachlasses. Bd. 2: Briefe und vermischte Aufsätze. Aus den Jahren 1819, 1820, 1821, 1822, Mannheim: Friedrich Bassermann, 1844, 33–42 (= Nr. 35).
- Rippmann, Inge und Peter (Hrsg.) (1977), Ludwig Börne – Sämtliche Schriften, Bd. IV, Dreieich: Melzer, 486–492 (= Nr. 57).
Beschreibung
Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main.
Signatur: Nachl.L.Börne BVIII, Nr. 192, Bl. 124-125.
Material: Doppelblatt (Büttenpapier), gefaltet, mit einer unbeschriebenen und drei beschriebenen Seiten, davon eine Adressseite. Eisengallustinte, Schrifthöhe ca. 2,5 mm. Nachträgliche Notizen mit rotem Farbstift und Bleistift. Paketfaltung mit weißer Oblate (Prägung ‚D B‘) verschlossen, Maße des gefalteten Kuverts 7,7, × 10,6 cm.
Größe: 41,6 (= 20,8 + 20,8) × 24,8 cm
Herkunft: München, 8. und 10.12.1821
Poststempel: Ankunftsstempel Zweikreisstempel mit Elzevir-Schrift ‚FRANKFURT‘, Stempelinschrift: ‚10 D E C‘ sowie ‚P.P.‘-Stempel (‚P. P.‘ steht für ‚Porto payé‘, also ‚Porto gezahlt‘).
Zitationshinweis
Sophia Victoria Krebs, Im Krieg und im Liebesbrief ist alles erlaubt – ein ungewöhnlicher Brief von Ludwig Börne an Jeanette Wohl
In: Wiebke Beyer, Karin Becker (Hrsg.): Artefact of the Month Nr. 3, CSMC, Hamburg,
https://www.csmc.uni-hamburg.de/publications/aom/003-de.html