Explosion in Zeitlupe
Einer, der diese Chance ergreift, ist Anfang der Neunzigerjahre Mirko Reisser. Als er 1989 zum ersten Mal zur Sprühdose greift, ist er bereits ziemlich alt – satte 17 Jahre. Die meisten Einsteiger sind jünger, 14, höchstens 15. Aber der späte Start hat auch sein Gutes: Schon bald besitzt er einen Führerschein, kann rumfahren und, Zitat, „Sachen machen“. Was er treibt, weiß niemand außer seinen Mitstreitern, schon gar nicht seine Eltern, die nicht wenig erstaunt sind, als eines Abends die Polizei bei der Familie klingelt. Anlass zu elterlichem Kummer gibt es aber nicht. Bereits 1991, Reisser ist gerade mit der Schule fertig, erstellt er erste Auftragsarbeiten und verdient mit dem Sprühen sein eigenes Geld.
Anfangs sind seine Graffitis noch figürlich. Aber diese Art des Sprühens kann sich nie ganz von anderen Kunstrichtungen lösen. Zu naheliegend sind die Parallelen zum Comic, zur Fotographie, immer gibt es schon etwas, mit dem man verglichen oder in Verbindung gebracht wird. Style Writing ist etwas Neues. Natürlich hat es seine eigenen Vorläufer und Vorbilder, aber in der Form, in der es sich in der Graffitiszene entwickelt, ist es einzigartig. Was Reisser daran besonders reizt, ist das Spannungsverhältnis zwischen Chaos und Reglementierung: Auf der einen Seite können die Writer ihre Buchstaben auf unzählige Weisen stylen; je ausgefallener, desto besser. Auf der anderen Seite gibt die Typographie Regeln vor, an denen man auch im Underground nicht vorbeikommt; ein A ist ein A, der Spielraum hat Grenzen. Diese Freiheitsgrade auszuloten, ist das Merkmal der Kunst, „seit 30 Jahren dieselben vier Buchstaben zu malen“, wie Reisser selbstironisch kommentiert. „Aber wie ich das jeweils umsetze, hat ganz viel mit mir zu tun, mit meinem Charakter. Genauso, wie ich mich in 30 Jahren als Mensch verändert habe, haben sich auch meine Bilder verändert.“

In diesem kontinuierlichen Veränderungsprozess fallen zwei Aspekte besonders auf: die Farbvielfalt nimmt ab, die Abstraktion nimmt zu. „Mit der Zeit gehen meine Arbeiten immer mehr ins Graue, die Palette wird reduziert, gleichzeitig gibt es starke Akzentfarben“, sagt Reisser. „DAIMmonomania III“, auf dem sich ein helles Grün und Orange deutlich abheben, führt diese Entwicklung ebenso deutlich vor wie den Zug ins Abstrakte. Bei diesem Triptychon hat Reisser eine Technik verwendet, die er bisher nur auf Aluminiumwabenplatten, mit denen er erst seit Kurzem arbeitet, ausprobiert hat: Dabei werden Flächen abgeklebt, wodurch die scharfen Kanten entstehen, die so präzise aus freier Hand nicht gelingen könnten. Die Buchstaben werden nicht abgeklebt; das kommt für Reisser auch nicht in Frage. „Ich mag diesen Kontrast. Wenn man frei Hand sprüht, ist es nie perfekt, weil man nicht unendlich fein sprühen kann. Das steht in einem starken Gegensatz zu den abgeklebten Flächen.“ Was seine Bilder heute einfangen, sind keine Initialzündungen, sondern Zwischenstadien: Sie zeigen Momente, vor denen schon etwas passiert ist. Aber was immer da vor sich geht, geht noch weiter.
Wohin führt diese Entwicklung? Nehmen sich die Farben immer weiter zurück? Setzen die aus dem Hintergrund drängenden Flächen und Formen die Eroberung des Raums um sie herum fort? Letztlich können das nur die nächsten Bilder zeigen, erzwungen werden kann es nicht. „Manchmal wünsche ich mir, dass es schneller ginge“, sagt Reisser. Die Explosion läuft in Zeitlupe. Die Geschichte der vier Buchstaben ist noch nicht zu Ende.