Raumeroberung
3. Juni 2022
Hamburg, 1989: Die Schulhöfe teilen sich in Popper und Punker. In der jungen Graffitiszene entwickelt sich Mirko Reisser schnell zur festen Größe. 30 Jahre später sind sowohl er als auch die Szene andere geworden. Was gleichbleibt, steckt in vier Buchstaben: DAIM.
Read the English version of this article here.
Zu Beginn des Sommersemesters wurde im Foyer der Warburgstraße 28 das Triptychon "DAIMmonomania III" von Mirko Reisser alias DAIM enthüllt. Das ist Anlass zu einer kleinen zweiteiligen Serie über das Werk und den Künstler. Im ersten Teil geht Kunsthistoriker Bruno Reudenbach der Frage nach, welche Berührungspunkte zwischen Graffiti und dem CSMC bestehen (dies ist das Manuskript der Rede, die Reudenbach unmittelbar nach der Enthüllung gehalten hat). Der vorliegende zweite Teil nimmt "DAIMmonomania III" zum Anlass, die Entwicklung des Werks von Mirko Reisser, aber auch der Graffitiszene als solcher während der letzten 30 Jahre zu betrachten.
Wo ist das D? Es dauert etwas, bis sich der Blick des Betrachters von „DAIMmonomania III“ beruhigt hat. Zuerst ist da ein Ansturm von Flächen und scharfkantigen Objekten, die aus der Mitte des Bildes in den Raum zu drängen scheinen und, angesichts der Wucht des Ganzen, auch noch darüber hinaus. Erst nachdem der Impuls, in Deckung zu gehen, verwunden ist, erkennt man die Buchstaben. Das A, das trotz seiner Größe und Robustheit von den Kräften im Hintergrund gebogen und verformt zu werden scheint. Dann das i, dessen Punkt gleich durch die Decke fliegt. Schließlich das schwarze M als mächtiger Abschluss. Aber wo ist das D?
„Im Laufe der Jahre ist meine Arbeit immer abstrakter geworden“, sagt Mirko Reisser, der erste Artist in Residence am CSMC, dessen Triptychon „DAIMmonomania III“ seit April im Foyer der Warburgstraße 28 hängt. „Die Buchstaben nehmen immer weniger Raum ein, gleichzeitig ist das, was drumherum passiert, der Hintergrund, die Dynamik, immer wichtiger geworden. Es geht um den Moment davor. Die Buchstaben sind teilweise verdeckt, aber die weißen Flächen könnten jederzeit nach vorne brechen und dann würde der ganze Schriftzug rauskommen. Aber noch ist es nicht so weit.“
Den höchsten Grad an Abstraktheit hat in Mirko Reissers Bildern, die er Selbstporträts nennt, das D erreicht. Es steht nicht zufällig am Anfang. Als er Ende der Achtzigerjahre mit dem Sprühen beginnt, erschafft er zuerst seinen Tag, seine persönliche Signatur. Wichtig dabei ist nicht nur die Wahl der Buchstaben, sondern auch, wie sie zueinander stehen. Er beschließt: Das bauchige, sich vorneigende D gehört an den Anfang. Das A stützt es mit seinen schrägen Balken. Noch standfester ist das M mit seinen drei Beinen. Zwischen diese stabilen Gerüste passt sogar ein kippeliges I, das Reisser meistens mit einem Punkt versieht. Die daraus resultierende Kombination – DAIM – steht für nichts, bedeutet nichts. Wenigstens zunächst. Steht sie erst an einer Wand und dann an vielen Wänden, wird sie zu einem Zeichen für den Künstler und auch zu einem Teil von ihm selbst.
Von der Straße in die Galerie
Hinter dem Graffiti Writing, einem großen, aber längst nicht dem einzigen Teil der Graffitiszene, steht ein einfacher, aber kraftvoller Antrieb: eine Spur zu hinterlassen, etwas zu erschaffen, das gesehen und beachtet wird. Graffiti gehört zur Urban Art, einer Kunst, wie sie nur in urbanen Räumen, genauer gesagt der modernen Großstadt und der Anonymität, mit der sie den Einzelnen umhüllt, entstehen kann. Im New York und Philadelphia der Sechzigerjahre wird die Saat gelegt: Jugendliche beginnen, an Hausfassaden, Mauern und – besonders beliebt – in Zügen ihre Tags zu sprühen, mit denen sie gleichzeitig ein Zeichen hinterlassen und die nicht in die Szene eingeweihten Betrachter vor Rätsel stellen. Der legendäre TAKI 183, ein in New York lebender Grieche, schafft es damit 1971 als Siebzehnjähriger bis in die New York Times.
Die Szene wächst. Ende der Siebzigerjahre sind die Züge der Stadt gründlich vollgesprüht. Bürgermeister Ed Koch greift hart durch, Graffiti wird kriminalisiert, in den Achtzigerjahren sind die Züge wieder „sauber“. Aber inzwischen ist der Geist aus der Flasche. 1983 entsteht der Film Wild Style!, in dem verschiedene Protagnisten der Urban-Art-Szene – darunter Breakdancer, DJs und Sprayer, deren Subkulturen hier erstmals mit dem Kunstbegriff „Hip-Hop“ gebündelt werden – auftreten und in kurzer Zeit zu Vorbildern für Jugendliche in aller Welt werden.
Die Hip-Hop-Welle erreicht auch Deutschland. In der ersten Phase geht es noch drunter und drüber: Alle machen alles, Breakdance, Platten auflegen, Graffiti; erst nach und nach entwickeln sich daraus eigenständige Szenen. Es ist eine Kultur, die mangels Angebots noch nicht konsumierbar ist, an der man nur teilhaben kann, indem man sie selbst macht. Je mehr junge Leute mitmischen, desto mehr geht es auch ums gut machen. Um sich in der aufkeimenden Szene Anerkennung zu sichern, muss man etwas schaffen, was Wiedererkennungswert besitzt. Der Weg, sich auszuzeichnen, besteht für Graffiti Writer im "Stylen" ihrer Buchstaben. Den eigenen Tag unverwechselbar zu machen, ist auch schon ein Ziel, als die Szene noch recht übersichtlich ist. Aber mit der zunehmenden Konkurrenz durch andere Sprüher wird die Kreativität des Einzelnen noch stärker herausgefordert. Experimente mit Farben, Formen und Material sorgen dafür, dass nicht nur immer mehr, sondern auch immer raffiniertere Pieces entstehen.
Mit dem Style Writing entwickelt sich Graffiti zur Kunst. Was zunächst von vielen als pubertäres Gehabe abgetan wird und immer mit dem Ruch des Illegalen verbunden ist, findet allmählich seinen Weg auf Messen und in Kunstgalerien. Stück für Stück wird die Szene professioneller – und kommerzieller. Gerade in Deutschland entwickelt sich ein Markt, die Dosen werden besser, die Farben nuancenreicher. Für die Szene ist diese Entwicklung zweischneidig: Zwar verliert sie, zumindest teilweise, ihren rebellischen, subversiven Charakter; dafür bietet sie Graffitikünstlern eine Chance, an die vorher nicht zu denken war: vom Sprühen zu leben.
DAIM: 1989 bis heute
Explosion in Zeitlupe
Einer, der diese Chance ergreift, ist Anfang der Neunzigerjahre Mirko Reisser. Als er 1989 zum ersten Mal zur Sprühdose greift, ist er bereits ziemlich alt – satte 17 Jahre. Die meisten Einsteiger sind jünger, 14, höchstens 15. Aber der späte Start hat auch sein Gutes: Schon bald besitzt er einen Führerschein, kann rumfahren und, Zitat, „Sachen machen“. Was er treibt, weiß niemand außer seinen Mitstreitern, schon gar nicht seine Eltern, die nicht wenig erstaunt sind, als eines Abends die Polizei bei der Familie klingelt. Anlass zu elterlichem Kummer gibt es aber nicht. Bereits 1991, Reisser ist gerade mit der Schule fertig, erstellt er erste Auftragsarbeiten und verdient mit dem Sprühen sein eigenes Geld.
Anfangs sind seine Graffitis noch figürlich. Aber diese Art des Sprühens kann sich nie ganz von anderen Kunstrichtungen lösen. Zu naheliegend sind die Parallelen zum Comic, zur Fotographie, immer gibt es schon etwas, mit dem man verglichen oder in Verbindung gebracht wird. Style Writing ist etwas Neues. Natürlich hat es seine eigenen Vorläufer und Vorbilder, aber in der Form, in der es sich in der Graffitiszene entwickelt, ist es einzigartig. Was Reisser daran besonders reizt, ist das Spannungsverhältnis zwischen Chaos und Reglementierung: Auf der einen Seite können die Writer ihre Buchstaben auf unzählige Weisen stylen; je ausgefallener, desto besser. Auf der anderen Seite gibt die Typographie Regeln vor, an denen man auch im Underground nicht vorbeikommt; ein A ist ein A, der Spielraum hat Grenzen. Diese Freiheitsgrade auszuloten, ist das Merkmal der Kunst, „seit 30 Jahren dieselben vier Buchstaben zu malen“, wie Reisser selbstironisch kommentiert. „Aber wie ich das jeweils umsetze, hat ganz viel mit mir zu tun, mit meinem Charakter. Genauso, wie ich mich in 30 Jahren als Mensch verändert habe, haben sich auch meine Bilder verändert.“
In diesem kontinuierlichen Veränderungsprozess fallen zwei Aspekte besonders auf: die Farbvielfalt nimmt ab, die Abstraktion nimmt zu. „Mit der Zeit gehen meine Arbeiten immer mehr ins Graue, die Palette wird reduziert, gleichzeitig gibt es starke Akzentfarben“, sagt Reisser. „DAIMmonomania III“, auf dem sich ein helles Grün und Orange deutlich abheben, führt diese Entwicklung ebenso deutlich vor wie den Zug ins Abstrakte. Bei diesem Triptychon hat Reisser eine Technik verwendet, die er bisher nur auf Aluminiumwabenplatten, mit denen er erst seit Kurzem arbeitet, ausprobiert hat: Dabei werden Flächen abgeklebt, wodurch die scharfen Kanten entstehen, die so präzise aus freier Hand nicht gelingen könnten. Die Buchstaben werden nicht abgeklebt; das kommt für Reisser auch nicht in Frage. „Ich mag diesen Kontrast. Wenn man frei Hand sprüht, ist es nie perfekt, weil man nicht unendlich fein sprühen kann. Das steht in einem starken Gegensatz zu den abgeklebten Flächen.“ Was seine Bilder heute einfangen, sind keine Initialzündungen, sondern Zwischenstadien: Sie zeigen Momente, vor denen schon etwas passiert ist. Aber was immer da vor sich geht, geht noch weiter.
Wohin führt diese Entwicklung? Nehmen sich die Farben immer weiter zurück? Setzen die aus dem Hintergrund drängenden Flächen und Formen die Eroberung des Raums um sie herum fort? Letztlich können das nur die nächsten Bilder zeigen, erzwungen werden kann es nicht. „Manchmal wünsche ich mir, dass es schneller ginge“, sagt Reisser. Die Explosion läuft in Zeitlupe. Die Geschichte der vier Buchstaben ist noch nicht zu Ende.