Manuscript Cultures
Enthüllung des Triptychons "DAIMmonomania III" am CSMC"Dieses Werk sollte ein dauerhafter Anstoß sein, Fragen zu stellen"
30. Mai 2022
Im Foyer des CSMC-Gebäudes in der Warburgstraße 28 hängt seit Kurzem ein Triptychon des Hamburger Graffitikünstlers Mirko Reisser alias DAIM. In seiner anlässlich der Enthüllung des Werks gehaltenen Rede geht Kunsthistoriker Bruno Reudenbach einer einfachen Frage nach: warum hier?
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Zu Beginn des Sommersemesters wurde im Foyer der Warburgstraße 28 das Triptychon "DAIMmonomania III" von Mirko Reisser alias DAIM enthüllt. Das ist Anlass zu einer kleinen zweiteiligen Serie über das Werk und den Künstler. Im vorliegenden ersten Teil geht Kunsthistoriker Bruno Reudenbach der Frage nach, welche Berührungspunkte zwischen Graffiti und dem CSMC bestehen (dies ist das Manuskript der Rede, die Reudenbach unmittelbar nach der Enthüllung gehalten hat). Der zweite Teil nimmt "DAIMmonomania III" zum Anlass, die Entwicklung des Werks von Mirko Reisser, aber auch der Graffitiszene als solcher während der letzten 30 Jahre zu betrachten.

Karsten Helmholz
Im Folgenden soll es zur Enthüllung von Mirko Reissers „DAIMmonomania III“ nicht um eine tiefschürfende kunsthistorische Einordnung dieses Werks gehen. Ich möchte in dieser kurzen Ansprache vielmehr der schlichten Frage nachgehen: Was hat dieses Bild eigentlich mit uns, mit unserer wissenschaftlichen Arbeit hier in diesem Gebäude zu tun? Wir sind kein Museum und keine Galerie, dennoch aber wird dieses Bild nun im Foyer des neuen Cluster-Gebäudes präsentiert. Damit kann pandemiebedingt erst heute nachgeholt werden, was ursprünglich zur offiziellen Einweihung des Gebäudes stattfinden sollte. Dieser Zusammenhang und die geradezu programmatische Platzierung im Foyer legen nahe, dass hier neben der ansprechenden Gestaltung eines nüchternen Bürogebäudes und Kunstgenuss für dessen Besucher mehr beabsichtigt ist, dass es auch um Berührungspunkte mit der Arbeit des Clusters Understanding Written Artefacts geht.
In der Graffitiszene gehört Mirko Reisser zu denen, die als writer bezeichnet werden, die „schreiben“, deren Thema Schrift ist und nicht figürliche Bilder. Reisser schreibt ausschließlich sein Pseudonym, die vier Buchstaben DAIM. Der auf die Bildfläche geschriebene Künstlername ist in der klassischen Kunst vor allem als Signatur bekannt, wie sie seit vielen Jahrhunderten der Authentifizierung dient, als eigenhändige Kennzeichnung mit dem Namen des Künstlers, gelegentlich auch durch ein Monogramm – denken Sie an das berühmte AD Albrecht Dürers. In diesem Sinne ist auch unser Bild signiert, und zwar auf der Rückseite. Zugleich ist der Künstlername hier aber nicht nur ein Bildattribut, oft eher marginal in einer der unteren Bildecken oder, wie in diesem Falle, auf der Rückseite platziert. Vielmehr ist das Pseudonym DAIM das eigentliche Thema des großformatigen Bildes – für das Interesse an Authentifizierungskonzepten von Written Artefacts, wie es in Research Field C Creating Originals verfolgt wird, ein bedeutender Befund.
Wie in einer Explosion durchbrechen die Buchstaben die dünne Schicht der vorderen Bildebene.
Dies gilt auch für ein zweites authentifizierendes Element, die visuelle Realisierung, der individuelle, unverwechselbare style, in dem Schrift in Erscheinung tritt. Mirko Reissers Ruhm ist gegründet auf der Erfindung des 3D-style. Dieser authentische Reisser-style ist gekennzeichnet durch die dargestellte Dreidimensionalität der im Bild erscheinenden Buchstaben, die einhergeht mit Formung und Ausgestaltung eines Bildraumes durch und mit Schrift.
In unserem Bild scheint die Schrift aus der undefinierbaren Tiefe des Bildraums nach vorne zu drängen. Wie in einer Explosion durchbrechen die Buchstaben die dünne Schicht der vorderen Bildebene, die sich dabei in kristalline Einzelteile zerlegt. Diese wiederum verbinden sich mit den Bruchstücken der Buchstaben und anderen Formgebilden zu einem großen, die gesamte Bildfläche einnehmenden räumlichen Arrangement. Trotz seiner exakten Stereometrie ist dieser Raum aber in dem Unter-, Über-, Hinter- und Ineinander seiner Teile für das Auge nicht vollständig und eindeutig erschließbar, er bleibt partiell rätselhaft. Ebenso wenig können wir uns sicher sein, ob wir es hier tatsächlich mit den vier Buchstaben DAIM zu tun haben. Unmittelbare und eindeutige Lesbarkeit ist in diesem explodierenden Schriftraum verabschiedet, die Schrift bleibt wie der Raum in Teilen rätselhaft. Ihre semantische Dimension tritt zurück hinter die Dominanz des Bildlichen.
Bei Mirko Reisser wird die Dominanz des Bildlichen exemplarisch manifest in den vier Buchstaben des Pseudonyms DAIM. Als Visualisierung von Lautwerten sind diese Buchstaben allenfalls in zweiter Linie von Belang. Man kann die Buchstabenfolge sprechen, sie ist aber frei von Semantik. Folgen wir der Erklärung des Künstlers selbst, so lässt sich sagen, dass die Wahl gerade dieser vier Buchstaben auf deren visuellen Eigenschaften beruht, auf dem bildlichen Potential der Buchstabenformen. Der schlanke Vertikalstrich des I und das voluminöse D sind eher instabil mit der Möglichkeit nach rechts oder zu beiden Seiten zu kippen, während A und M mit zwei oder gar drei Fußpunkten Stabilität vermitteln. DAIM bezeichnet also exemplarisch unterschiedliche Möglichkeiten für die Stellung von Buchstaben im Bildraum.
Aber noch in einem anderen Sinn berührt „DAIMmonomania III“ die Kategorie „Raum“. Dass Graffiti als Written Artefacts zum Gegenstandsbereich des Clusters zählen, war schon in der Antragsphase unumstritten, ebenso aber auch, dass bei der Erforschung von inscriptions deren räumliche Konditionen und Kontexte besondere Beachtung finden sollten, deshalb das Research Field B Inscribing Spaces. Für die in diesem Begriffspaar aufgerufenen Interdependenzen bietet unser Bild exemplarisch Anschauungsmaterial. Vor allem lässt sich hier beobachten, welche Folgen es hat, wenn Parameter, die für Inscribing spaces relevant sind, geändert werden.
Der neue Kontext setzt das Ephemere der Graffiti außer Kraft und stellt das Kunstwerk im Gegenteil auf Dauer.
Der Begriff street-art zeigt es an: Genuin ist diese Gattung eigentlich dem öffentlichen Raum zugehörig, Bilder und Schriften, oft illegal gesprayt an die Außenwände von Gebäuden, an Brücken oder S-Bahnen. Für unser Bild aber ist nun der semi-öffentliche Innenraum eines Bürogebäudes von Belang; es könnte auch der einer Galerie oder eines Museums sein oder der gänzlich private einer privaten Kunstsammlung. Mit der Verlagerung von außen nach innen, aus dem öffentlichen in den semi-öffentlichen oder privaten Raum hat sich hier zugleich der Schrift/Bildträger gewandelt – von der Wand selbst zum an der Wand hängenden Tafelbild. Als Gedankenexperiment kann man sich vorstellen, hier wäre nicht das Geviert eines Tafelbildes an die Wand gehängt, sondern ein piece direkt auf die unregelmäßig geformte Treppenhauswand gesprayt. Wie würde das im Vergleich zum Tafelbild unsere Wahrnehmung des Foyers verändern und wie würde umgekehrt die Verschiedenheit der Schrift/Bildträger das jeweilige Schrift/Bild beeinflussen?
Darüber hinaus schließen die Wechsel von Kontext, Schrift/Bildträger und Format einen Statuswechsel ein. Das vormals illegale Sprayen ist als klassisches Tafelbild zum Kunstwerk nobilitiert, erst recht in der hier erkennbaren Form als Triptychon, eine Form, die von Altarbildern stammt. Die Versetzung aus dem öffentlichen Außenraum heißt auch, dass das Bild in einem Innenraum und im Kontext einer Sammlung – womit ein weiteres Research Field aufgerufen wäre – als Kunstwerk unter Schutz gestellt ist. Der neue Kontext setzt das Ephemere der Graffiti, die stets in Gefahr sind, entfernt, übermalt oder übersprayt zu werden, außer Kraft und stellt das Kunstwerk im Gegenteil auf Dauer.
Es sollte nun nicht darum gehen, unser Bild auf Korrespondenzen mit Research Fields des Clusters einzuengen und Kunstgenuss oder die ästhetische Aufwertung des Foyers gering zu schätzen. Darüber hinaus aber kann, ja sollte dieses Werk auch ein dauerhafter Anstoß sein, Fragen zu stellen, die so noch nicht im Fokus standen, oder Antworten zu finden, wie sie in diesem oder jenem Projekt noch nicht bedacht wurden.