Interviews zum ENCI-Projekt, Teil 1: Assyriologie„ENCI verschafft uns Zugang zu einer Fülle von Quellenmaterial“
25. Januar 2024
ENCI verschafft Assyriologen Zugang zu zahlreichen bisher unzugänglichen Quellen. Im Interview erkärt Cécile Michel, welchem Zweck die Tonumschläge der Keilschrifttafeln dienten und was sich vom ersten Einsatz des neuen Geräts im Pariser Louvre erwartet.
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Cécile Michel, wieso wurden im antiken Mesopotamien Keilschrifttafeln in Tonumschläge gesteckt?
Je nach Dokument erfüllten die Umschläge unterschiedliche Funktionen: Verträge zum Beispiel wurden zum Zeichen ihrer Gültigkeit mit einem Umschlag versiegelt. Brach jemand diese Hülle, war auch der Vertrag nichtig. Aber diese Praxis machte es natürlich auch unmöglich, den Text zu konsultieren, deswegen wurden die wichtigsten Vertragsinhalte noch einmal außen auf den Umschlag geschrieben. Obwohl wir sie noch nie gesehen haben, wissen wir also schon recht genau, was in den versiegelten Verträgen, die uns von damals erhalten geblieben sind, drinsteht.
Anders ist das bei Briefen. Wie heute auch wurden diese in erster Linie deswegen in Umschlägen verschlossen, um vertrauliche Informationen vor neugierigen Blicken zu schützen. Auf dem Umschlag selbst stehen lediglich die Namen des Absenders und des Empfängers. Für uns Assyriologen ist das äußerst unbefriedigend: Wir haben diese Fülle an Quellenmaterial, das sich bis heute erhalten hat, können aber trotzdem nicht darauf zugreifen.
Weshalb wurden so viele Briefe nie geöffnet?
Postsendungen waren oft sehr lange unterwegs. War ein Empfänger bei seiner Ankunft verstorben, umgezogen oder aus sonstigen Gründen nicht auffindbar, beließ man den unzustellbaren Brief in seinem Umschlag. Das passierte regelmäßig, und so lagern heute noch einige verschlossene Briefe in den Museen und Archiven dieser Welt.
Warum wurden diese Keilschrifttafeln nicht schon früher durchleuchtet? Die entsprechende Röntgentechnik steht ja schon seit geraumer Zeit zur Verfügung.
Ja, in Form von stationären Großgeräten. Die Tafeln sind aber zu wertvoll und zu fragil, um sie dem Risiko eines Transports auszusetzen. Es gibt nur einen Weg: Nicht die Keilschrifttafeln müssen zum Röntgenscanner kommen, sondern der Röntgenscanner zu den Keilschrifttafeln. Aber einen solches mobiles Gerät gab es bisher nicht. Mit ENCI ändert sich das. Es verschafft uns erstmals die Möglichkeit, die verschlossenen Keilschrifttafeln vor Ort zu analysieren und die Texte in ihrem Inneren zu lesen.

Marta Mayer/DESY
Der erste Einsatz von ENCI findet gleich im berühmtesten Museum der Welt statt: Vom 1. bis zum 9. Februar sind Sie damit im Louvre in Paris. Was zeichnet die dortige Sammlung aus und welche Keilschrifttafeln haben Sie für die Analyse ausgewählt?
Der Louvre verfügt über eine der größten und wichtigsten Sammlungen antiker Keilschrifttafeln, sie umfasst rund 12.000 Exemplare. Wir beginnen unsere Untersuchungen zunächst an rund einem Dutzend Tafeln. Bei den meisten davon handelt es sich um Kreditverträge aus dem späten 3. Jahrtausend v. Chr. aus dem heutigen Südirak.
Aus den genannten Gründen stehen in diesen Fällen die Texte größtenteils auch außen auf dem Umschlag. Aber auch in diesen Fällen stellen sich einige interessante Fragen. Der äußere und der innere Text sind nie deckungsgleich, aus Platzgründen wurden außen bestimmte Informationen ausgespart. Wir werden überprüfen können, welche Punkte übertragen wurden und welche nicht, und ob es sonstige Abweichungen gibt, beispielsweise durch Fehler des Schreibers, der die Vertragsinhalte ja nur aus dem Gedächtnis auf den Umschlag schreiben konnte.
Welche weiteren Einsichten versprechen Sie sich durch die Nutzung von ENCI?
Das Gerät macht nicht nur das Lesen verborgener Texte möglich – auch wenn das ohne Frage seine wichtigste Funktion ist –, sondern erlaubt es uns auch, besser zu verstehen, wie die Keilschrifttafeln und die Tonumschläge hergestellt wurden. Manchmal wurde für den Kern der Tafeln recht grober Ton verwendet, der dann mit mehreren feineren Schichten ummantelt wurde, um eine glatte Schreibfläche zu haben. Wir sehen das beispielsweise bei den wichtigsten Texten aus der Bibliothek von Ashurbanipal aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. Es gab eine ganze Bandbreite von Produktionstechniken. Auch die Methoden, wie die Umschläge angebracht wurden, variierten. Dank ENCI werden wir feststellen können, welche davon angewendet wurden.
Welche Erwartungen hegen Ihre Fachkollegen in der Assyriologie in Bezug auf ENCI?
Es herrschen Neugier und Vorfreude. Seit einigen Jahren interessieren sich viele Assyriologen immer mehr für die Materialität der Texte, die sie erforschen. Aber weil die Tafeln bisher nicht vor Ort untersucht werden konnten, ist es für sie schwer, diesbezüglich Erkenntnisse zu gewinnen. Das wird sich mit ENCI ändern. Und natürlich sind wir alle sehr gespannt darauf, was in den verschlossenen Briefen steht, die wir untersuchen werden, zum Beispiel bei unserer zweiten Reise mit ENCI, die im Frühjahr nach Ankara führt. Wir werden die ersten sein, die sie lesen, nachdem sie vor 4.000 Jahren auf ihre vergebliche Reise geschickt wurden.