Die Ethik der Artefakte
16. Januar 2023
Gerade wenn sie mit Objekten arbeiten, die zum Kulturerbe gehören, müssen Forschende oft nicht fachlich, sondern moralisch urteilen. Cécile Michel erklärt, wie die Ethics Working Group und das Ethics Committee am CSMC Forschende unterstützen – und wann diese selbst Verantwortung übernehmen müssen.
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Cécile Michel kennt das inzwischen. Regelmäßig erhält sie Anfragen von Menschen, in deren Privatbesitz sich eines der Objekte befindet, mit denen sie sich auskennt wie nur wenige auf der Welt: mesopotamische Keilschrifttafeln. Ob sie nicht so freundlich sein könnte, den Text zu übersetzen? Die Neugier, so darf man annehmen, ist beidseitig: Die Eigentümer möchten natürlich wissen, was für eine Art von Dokument da aus ferner Vergangenheit in ihre Hände gelangt ist. Ein Geschäftsvertrag? Ein persönlicher Brief? Und für Michel, die ihre beachtliche Karriere der Erforschung der antiken mesopotamischen Kultur gewidmet hat, sind derartige Schriftartefakte die wichtigsten Quellen.
Trotzdem schlägt sie viele dieser Bitten aus. Denn auf ihre erste Nachfrage geben die Interessierten oft eine alarmierende Antwort. Auf welchem Wege sie dieser Tontafeln denn habhaft geworden seien? „Häufig heißt es dann, man habe sie kürzlich auf Ebay ersteigert. Tatsächlich werden dort zahlreiche solcher Objekte zum Kauf angeboten. Und nicht selten handelt es sich dabei um Diebesgut“, sagt Michel.
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Leider schätzt nicht jeder Keilschrifttafeln wegen ihrer kulturellen Bedeutung oder ihres Werts für die Forschung. Während der letzten Jahrzehnte – vor allem während der Golfkriege, der Bürgerkriege in Syrien und Libyen und des Vormarschs des sogenannten „Islamischen Staats“ – wurden zahllose Objekte geraubt und für viel Geld verkauft. Der Schwarzmarkt mit Antiquitäten hilft terroristischen Organisationen bei der Finanzierung. Am Ende landen viele der Stücke in den Händen von Privatleuten, die der sinisteren Hintergründe ihres Erwerbs häufig nicht einmal gewahr sind. An dieser Stelle, so Michel, stehen Wissenschaftlerinnen in der Pflicht: Sie müssen Aufklärung betreiben, Käufer von Antiquitäten für die Problematik ihres Handelns sensibilisieren. Sich selbst untersagt sie, aus solchen illegal gehandelten Objekten wissenschaftlichen Nutzen zu schlagen. Weder forscht noch publiziert sie zu Schriftartefakten, deren Herkunft fragwürdig ist.
Was an Material verfügbar war, wurde erforscht; diese nonchalante Haltung ist heute unmöglich.
Seit einigen Jahren ringen Wissenschaftlerinnen – insbesondere in der Archäologie, aber auch in vielen anderen Fächern – um den richtigen Umgang mit Artefakten verdächtigen oder nicht-dokumentierten Ursprungs. Auf der einen Seite steht die potentielle Erkenntnis, die die Erforschung dieser Objekte verspricht; Wissen, das sich wegen der Einzigartigkeit der Stücke auf keinem anderen Wege jemals erwerben lässt. Auf der anderen Seite müssen sich Forschende auf dem Weg zu dieser Erkenntnis in Kauf nehmen, sich möglicherweise gemein zu machen mit einem Markt, der auf Plünderungen basiert und von dem ausgerechnet jene Akteure profitieren, die eine der größten Bedrohungen für den Erhalt kultureller Schätze darstellen: Plünderer und Terroristen wie die des IS.
Lange Zeit gab es innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft für dieses potentielle Dilemma kaum ein Bewusstsein. Was an Material verfügbar war, wurde erforscht; Fragen zu den Hintergründen wurden nicht gestellt. Diese nonchalante Haltung ist während der letzten rund 20 Jahre, in denen der Handel mit geraubten Antiquitäten florierte, aber unmöglich geworden. Als Reaktion nahmen diverse wissenschaftliche Institutionen eine sehr restriktive Haltung ein. So erklärte das Archaeological Institute of America (AIA) im Jahr 2004, in seinem Hausorgan, dem American Journal of Archaeology, keine Artikel über Objekte mehr zu veröffentlichen, die nach dem 30. Dezember 1970 erworben wurden und deren Herkunft nicht dokumentiert ist. An diesem Tag verabschiedete die UN-Vollversammlung die “Convention on the Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property”. Darin werden erstmals internationale Standards für den rechtmäßigen Erwerb von Kulturgut auf internationaler Ebene formuliert. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft setzte sich zunehmend die Auffassung durch, Objekte unklarer Herkunft sollten nicht länger für die Forschung herangezogen werden. Dabei wurden teilweise schwere moralische Vorwürfe gegen Wissenschaftler erhoben, die sich dieser Auffassung nicht anschlossen.
Die Gegenreaktion ließ nicht lange auf sich warten. So setzte zum Beispiel der renommierte Archäologe und Assyriologe David I. Owen Maßgaben wie die der AIA mit Zensur gleich und beklagte den enormen Wissensverlust, den die Weigerung, Forschung zu Objekten unklarer Herkunft zu veröffentlichen, nach sich zöge. Die vornehmste Aufgabe von Wissenschaftlern, so das Argument, bestünde darin, Wissen aufzuzeichnen, zu bewahren und zu verbreiten. Niemandem sei geholfen, wenn Objekte samt aller Informationen, die sie enthalten, im Orkus privater Sammlungen verschwinden.
Zusammengefasst weist die Debatte all jene Eigenschaften auf, die für Auseinandersetzungen in moralischen Fragen typisch sind: eine komplexe Ausgangslage, starke Meinungen und scheinbar unauflösbarer Dissens.
Was zählt, ist, dass wir bei möglichst vielen Kolleginnen ein Bewusstsein für die Problematik schaffen.
In einer solchen Gemengelage ist es wichtig, Forschende, die sich richtig verhalten wollen, aber nicht alle relevanten Aspekte alleine überblicken können, nicht sich selbst zu überlassen, sondern ihnen Richtlinien an die Hand zu geben. Ebendiese Aufgabe verfolgt am CSMC die Ethics Working Group, der Cécile Michel vorsitzt und die Ende 2022 nach fast zweijähriger Arbeit den Ratgeber ‘Ethical and Responsible Research at CSMC’ herausgegeben hat. Dieser umfasst auch, aber längts nicht nur Ausführungen zum Umgang mit Objekten unklarer Herkunft. Darüber hinaus versucht er den noch weitaus vielfältigeren Anforderungen gerecht zu werden, mit denen sich Forschende, die in ihrer Arbeit mit Kulturgütern zu tun haben, zurechtfinden müssen. Zu diesen gehört auch das richtige Verhalten in Ländern mit sehr unterschiedlichen Rechtssystemen und Normen, das Auftreten in der Öffentlichkeit, und nicht zuletzt der Umgang mit digitalen Forschungsdaten.
Die Ethik-Arbeitsgruppe setzt sich dabei aus Wissenschaftlerinnen mit verschiedenen fachlichen Hintergründen zusammen. Ziel des von ihr herausgegebenen Leitfadens ist es ausdrücklich nicht, Wissenschaftler zu bevormunden und ihnen klar definierte Handlungsanweisungen zu geben. Vielmehr soll er sie die Vielschichtigkeit der ethischen Dimension wissenschaftlichen Arbeitens empfänglich machen und dabei unterstützen, auch auf diesem Terrain mündige Entscheidungen zu treffen. Solange keine Gesetze gebrochen werden, hebt Cécile Michel hervor, ist die letzte Instanz immer das Gewissen der jeweiligen Wissenschaftlerin.
Neben der Ethik-Arbeitsgruppe beschäftigt das CSMC seit rund zwei Jahren auch ein Ethics Committee. Dieses ist deutlich kleiner – neben Cécile Michel besteht es aus dem Linguisten Jost Gippert und dem Computerwissenschaftler Ralf Möller – und dazu da, Wissenschaftlerinnen am CSMC in konkreten Fällen beratend zur Seite zu stehen. Im Gegensatz zur Arbeitsgruppe, die sich regelmäßig trifft, tritt das Komitee nur zusammen, wenn eine Anfrage vorliegt. Seit seiner Etablierung wurde es bisher viermal konsultiert, in den meisten Fällen ging es um Schriftartefakte, die zweifelhaften Ursprungs sind. Das Komitee bemüht sich dann, so viele relevante Fakten zusammenzutragen wie möglich und auf deren Grundlage eine Empfehlung abzugeben. Doch auch hier gilt: Der Rat ist nicht bindend. Die finale Entscheidung treffen die Wissenschaftlerinnen selbst.
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Was den Umgang mit Objekten unbekannter Herkunft angeht, hat Cécile Michel diese Entscheidung für sich getroffen: Sie lässt die Finger davon. Gleichzeitig weiß sie zu gut, wie kompliziert und unterschiedlich jeder einzelne Fall sein kann, um pauschal den Stab über allen Kolleginnen zu brechen, die andere Entscheidungen treffen. „Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass es sowohl für als auch gegen die Veröffentlichung gute Argumente geben kann. Es wäre heuchlerisch, alle zu verdammen, die sich für die Veröffentlichung entscheiden, denn sobald die Publikationen draußen sind, arbeitet jeder damit. Was zählt, ist, dass wir bei möglichst vielen Kolleginnen ein Bewusstsein für die Problematik schaffen.“ Jede Wissenschaftlerin, zumal wenn sie mit wertvollen Kulturgütern umgeht, sollte mindestens im Stande sein, die richtigen Fragen zu stellen. Die richtigen Antworten zu finden bleibt eine Aufgabe, die dem Einzelnen niemand abnehmen kann.