In ihrem neuen Projekt kehrt sie thematisch nach Tibet zurück, nachdem sie in den letzten drei Jahren im Projekt „Kolorierte Landkarten“ vor allem Karten aus Ostasien untersucht hat. Beim Erforschen der Kolorierungen von Landkarten kam es entscheidend auf die Zusammenarbeit mit Natur- und Materialwissenschaftlern an: „Dabei habe ich zum ersten Mal selbst erlebt, wie fruchtbar interdisziplinäre Zusammenarbeit sein kann, wie gut sich Natur- und Geisteswissenschaften ergänzen können, wenn es darum geht, Karten, deren Geschichte und Materialität zu verstehen.“ Das neue Projekt soll nun beides zusammenführen: den thematischen Fokus auf Tibet und den methodischen Schwerpunkt auf Material und Kartografie. Statt die Untersuchung auf eine bestimmte Sammlung wie die Wise Collection zu beschränken, will Lange nun ein möglichst ganzheitliches Bild der kartografischen Erfassung Tibets entwerfen.
Doch warum gerade Tibet? Mit Blick auf diese Region wird besonders deutlich, wie sich Prozesse des Kartografierens von Kultur zu Kultur unterscheiden und wie anders die dabei verfolgten Interessen gelagert sein können. Darstellungen Tibets changieren je nach Perspektive, wobei insbesondere der Kontrast zwischen indigenen, chinesischen und europäischen Sichtweisen ins Auge sticht: Aus chinesischer Sicht war bei der kartografischen Erschließung Tibets ab dem Ende des 18. Jahrhunderts vor allem wichtig, die Region und ihre südlichen Grenzen aus verteidigungspolitischen Gründen zu erfassen. Den Europäern ging es um die Erschließung eines der letzten buchstäblich weißen Flecken auf ihren Landkarten. Wer einen geografischen Raum kontrollieren beziehungsweise kontrollierbar machen will – ein Drang, dem im Europa des 19. Jahrhunderts so hemmungslos nachgegangen wurde wie nirgends sonst – muss ihn möglichst vollständig und präzise abbilden. Dass für Tibeter selbst womöglich ganz andere, zum Beispiel spirituelle, Aspekte im Vordergrund standen, ist eine mögliche Erklärung dafür, warum ihre Karten so grundsätzlich von westlichen abweichen – so weit, dass der westliche Blick sie nicht als „Karten“ wahrnimmt, sondern als „Bilder“. Diese Unterscheidung überhaupt machen zu wollen ist aber selbst Ausdruck einer bestimmten kulturellen Prägung: „Im Chinesischen gibt es für diese beiden Begriffe nur ein einziges Zeichen. Deshalb käme dort niemand auf die Idee, eine so strikte Trennlinie zu ziehen“, sagt Lange. Die unterschiedlichen kulturellen und kartografischen Inventionen der Europäer, Chinesen und Tibeter führen zur Produktion sowohl inhaltlich als auch äußerlich sehr unterschiedlicher Karten.
Alte Karten Tibets neu zu lesen, zu vergleichen und mithilfe der Materialwissenschaften die historischen und sozialen Hintergründe ihrer Entstehung zu erhellen – in den kommenden drei Jahren will Lange auf diesem Feld weiter vorankommen. Wo es gelingt, zeigt sich Erstaunliches: Auch mit den ungewöhnlichsten Karten können wir fremdes Terrain ergründen.
