Manuscript Cultures
Offene Karten
28. Januar 2022
Für die meisten sind Karten ein Mittel zur Orientierung. Für Diana Lange ist das Verstehen von Karten selbst das Ziel. In ihrem neuen Projekt befasst sie sich mit der Kartografie Tibets. Ihre Forschung zeigt: Karten können viel mehr sein als Wegweiser. Vorausgesetzt, wir lesen sich richtig.
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Das soll eine Karte sein? Wer sich die Abbildung anschaut, die Diana Lange zur Illustration ihres neuen Forschungsprojekts „Maps as Knowledge Resources and Mapmaking as Process: The Case of the Mapping of Tibet“ ausgewählt hat, mag stutzig werden: Da schwebt ein Heiliger in den Wolken über einem weißen Berg, der von Mönchen und Pilgern umrundet wird. Vieh weidet im Umland, ein Nomade melkt ein Yak. Zelte stehen neben Klöstern, die mit tibetischen Beschriftungen versehen sind. Die grüne Landschaft ist durchzogen von Gewässern und Flüssen. Zweifellos ein prächtiges Bild. Aber eine Karte?
Die Irritation ist beabsichtigt. Natürlich, die „Map of Mount Kailash and Surroundings“ aus dem 19. Jahrhundert läuft fast allen Erwartungen zuwider, die westliche Betrachter an Karten haben: Es fehlt ein Maßstab, es fehlt die Übersichtlichkeit schaffende Abstraktion. Doch wer sagt, das Karten keinem anderen Zwecken dienen können als der schnellen Orientierung? Überhaupt: Wer sagt, was eine Karte ist und was nicht?
Konzeptuelle Fragen wie diese spielen in Langes Forschung eine zentrale Rolle. Für sie ist eine Karte zunächst nicht mehr und nicht weniger als „eine Repräsentation eines geografischen Raumes“. So verstanden fällt weit mehr unter diesen Begriff als das, was wir in europäischen Schulatlanten finden. Und so verstanden können Karten verschiedenartige Informationen transportieren – je nachdem, wer sie zu welcher Zeit, mit welcher Absicht und für welche Adressaten erstellt hat. Ortsfremde, die sich mit der „Map of Mount Kailash“ auf den Weg machen, werden sich zwar hoffnungslos verlaufen; aber wenn sie sich auf die scheinbar spielerischen Details einlassen, werden sie feststellen, dass darauf vielfältiges Wissen über den heiligen Berg in Westtibet abgebildet ist. Mit den uns geläufigen Kategorien können wir den Sinn solcher Karten kaum erfassen. Hier Fortschritte zu machen, die Terminologie zu schärfen und die enge europäische Perspektive auf Karten zu erweitern, sind die langfristigen Ziele, die Lange in ihrer Arbeit verfolgt.
Zwischen 'Bild' und 'Karte' überhaupt unterscheiden zu wollen, ist Ausdruck einer bestimmten kulturellen Prägung.
Betritt man ihr Büro, wandert der Blick automatisch zu einer Sammlung großformatiger Farbkopien, die einen beträchtlichen Teil der Wand bedecken. Sie zeigen einen Teil der Wise Collection, deren Original in der British Library aufbewahrt wird. Im Auftrag eines britischen Majors fertigte ein tibetischer Lama in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Karten an, die, nebeneinandergelegt, ein fünfzehn Meter langes Panorama der für Europäer damals praktisch unzugänglichen Region aufspannen. An ihnen ist exemplarisch zu besichtigen, wie tibetische und europäische Erwartungen an Karten kollidieren. Auf der mutmaßlich zuerst gezeichneten Karte wählt der Lama die Perspektive der traditionellen tibetischen Kartografie: Dabei wird die Blickrichtung des entlang der Flussroute ziehenden Wanderers eingenommen; alle Elemente auf der Karte, zum Beispiel Berge oder Gebäude, weisen von ihm weg. Befindet man sich auf der Route, kann man mit der Karte also in verschiedene Richtungen schauen. Doch für den Außenstehenden steht die Hälfte der dargestellten Objekte auf dem Kopf. Vermutlich war der britische Auftraggeber von dieser Darstellungsform ähnlich irritiert, wie es heutige westliche Betrachter bei der „Map of Mount Kailash“ sind, und forderte den Lama zu Anpassungen auf. Alle weiteren Karten sind jedenfalls, wie im Westen üblich, einheitlich ausgerichtet. Die facettenreiche Geschichte der Wise Collection hat Lange in ihrem Buch An Atlas of the Himalayas by a 19th Century Tibetan Lama: A Journey of Discovery erzählt (mehr dazu zum Beispiel in dieser Besprechung von Matthew Edney).
In ihrem neuen Projekt kehrt sie thematisch nach Tibet zurück, nachdem sie in den letzten drei Jahren im Projekt „Kolorierte Landkarten“ vor allem Karten aus Ostasien untersucht hat. Beim Erforschen der Kolorierungen von Landkarten kam es entscheidend auf die Zusammenarbeit mit Natur- und Materialwissenschaftlern an: „Dabei habe ich zum ersten Mal selbst erlebt, wie fruchtbar interdisziplinäre Zusammenarbeit sein kann, wie gut sich Natur- und Geisteswissenschaften ergänzen können, wenn es darum geht, Karten, deren Geschichte und Materialität zu verstehen.“ Das neue Projekt soll nun beides zusammenführen: den thematischen Fokus auf Tibet und den methodischen Schwerpunkt auf Material und Kartografie. Statt die Untersuchung auf eine bestimmte Sammlung wie die Wise Collection zu beschränken, will Lange nun ein möglichst ganzheitliches Bild der kartografischen Erfassung Tibets entwerfen.
Doch warum gerade Tibet? Mit Blick auf diese Region wird besonders deutlich, wie sich Prozesse des Kartografierens von Kultur zu Kultur unterscheiden und wie anders die dabei verfolgten Interessen gelagert sein können. Darstellungen Tibets changieren je nach Perspektive, wobei insbesondere der Kontrast zwischen indigenen, chinesischen und europäischen Sichtweisen ins Auge sticht: Aus chinesischer Sicht war bei der kartografischen Erschließung Tibets ab dem Ende des 18. Jahrhunderts vor allem wichtig, die Region und ihre südlichen Grenzen aus verteidigungspolitischen Gründen zu erfassen. Den Europäern ging es um die Erschließung eines der letzten buchstäblich weißen Flecken auf ihren Landkarten. Wer einen geografischen Raum kontrollieren beziehungsweise kontrollierbar machen will – ein Drang, dem im Europa des 19. Jahrhunderts so hemmungslos nachgegangen wurde wie nirgends sonst – muss ihn möglichst vollständig und präzise abbilden. Dass für Tibeter selbst womöglich ganz andere, zum Beispiel spirituelle, Aspekte im Vordergrund standen, ist eine mögliche Erklärung dafür, warum ihre Karten so grundsätzlich von westlichen abweichen – so weit, dass der westliche Blick sie nicht als „Karten“ wahrnimmt, sondern als „Bilder“. Diese Unterscheidung überhaupt machen zu wollen ist aber selbst Ausdruck einer bestimmten kulturellen Prägung: „Im Chinesischen gibt es für diese beiden Begriffe nur ein einziges Zeichen. Deshalb käme dort niemand auf die Idee, eine so strikte Trennlinie zu ziehen“, sagt Lange. Die unterschiedlichen kulturellen und kartografischen Inventionen der Europäer, Chinesen und Tibeter führen zur Produktion sowohl inhaltlich als auch äußerlich sehr unterschiedlicher Karten.
Alte Karten Tibets neu zu lesen, zu vergleichen und mithilfe der Materialwissenschaften die historischen und sozialen Hintergründe ihrer Entstehung zu erhellen – in den kommenden drei Jahren will Lange auf diesem Feld weiter vorankommen. Wo es gelingt, zeigt sich Erstaunliches: Auch mit den ungewöhnlichsten Karten können wir fremdes Terrain ergründen.
