Manuscript Cultures
Musiker gesucht!Das Album der Marie Pohlenz
16. September 2021

Foto: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
Im 19. Jahrhundert kursieren in den Salons der High Society "musikalische Freundschaftsalben", in denen sich Freunde und Bekannte mit kleinen Kompositionsskizzen verewigen. Im Album der Sängerin und Pianistin Marie Pohlenz verewigt sich die Prominenz der Leipziger Musikszene. Nach über 150 Jahren sind die Stücke darin wieder zugänglich. Zum Lesen, Hören und Spielen.
Erste Aufnahmen verfügbar!
Das CSMC lädt Sie ein, die private Musizierpraxis des 19. Jahrhunderts am Beispiel des Albums der Marie Pohlenz zu erkunden und die Stücke spielend zu entdecken. Zu diesem Zweck stellen wir, zusätzlich zum Digitalisat des Manuskripts, auch Transkriptionen der in sich geschlossenen Einträge zum Download zur Verfügung. Wir freuen uns, wenn Sie ihre Interpretationen als Ton- oder Videomitschnitt festhalten und uns über das Kontaktformular per Downloadlink zusenden. Sofern Sie dem zustimmen, wollen wir diese, mit den entsprechenden Seiten des Digitalisats verknüpft, ebenfalls auf der Website veröffentlichen.
Hier geht es zu den Aufnahmen von Alexander Schöppl, Ewelina Nowicka und Elisaveta Ilina.
Vom „Rückzug ins Private“ ist seit den pandemiebedingten Einschränkungen, die mit einem weitgehenden Herunterfahren des öffentlichen Lebens einhergehen, vermehrt die Rede. Der Musikbereich wurde – wie der Kulturbereich insgesamt – von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hart getroffen: durch geschlossene Konzertsäle und Opernhäuser ebenso wie durch abgesagte Festivals waren Auftritte im öffentlichen Bereich kaum noch möglich. Musikerinnen und Musiker waren somit auf das häusliche Umfeld beschränkt, musizieren konnten sie nur noch im Privaten und in (sehr) kleiner Besetzung. Schon im März letzten Jahres begannen die ersten von ihnen, zu Hause Konzerte zu spielen und diese zu streamen. Inzwischen kann dieser neue Aufführungstyp, häufig „Wohnzimmer-“ oder „Hauskonzert“ genannt, als etabliert gelten. Nicht nur haben einzelne Interpretinnen und Interpreten wie beispielsweise Igor Levit und Daniel Hope so regelmäßig Musik aus ihrem Wohnzimmer in die Wohnzimmer der Zuhörerinnen und Zuhörer gebracht – auch Institutionen wie die Wiener Symphoniker oder radioeins haben mit ihren Wohnzimmerkonzert-Reihen ein Podium für kleine Ensembles und Bands geschaffen. Das Schleswig-Holstein Musik Festival hat sogar musikalische Hausbesuche organisiert.
Dass sich ein großer Teil des Musiklebens im privaten Bereich abspielt, ist dabei kein neues Phänomen. Für das 19. Jahrhundert kann angenommen werden, dass der musikalische Erfahrungshorizont des Bürgertums entscheidend geprägt war durch diese Musikpraxis im Privaten, trotz der ebenfalls zahlreich stattfindenden öffentlichen Konzerte und Opernaufführungen. Professionelle Musikerinnen und Musiker, Komponisten und Laien trafen sich in Bürgerhäusern, um gemeinschaftlich zu musizieren. Die Bandbreite der Erscheinungsformen dieser privaten Musizierpraxis ist dabei groß, sie umfasst beispielsweise Aufführungen ganzer Opern durch Liebhaberinnen und Liebhaber ebenso wie Abende mit vierhändigem Klavierspiel. Gleichzeitig boten private Kennerkreise Komponisten wie Interpreten und Interpretinnen einen geschützten Raum, in dem anspruchsvollere Kompositionen erprobt und diskutiert werden konnten.
Musikalben und das Musizieren im Privaten
Musikalben sind eng mit diesem Bereich der privaten Musikausübung verknüpft. Es handelt sich dabei um Manuskripte, die von ihren Besitzerinnen und Besitzern angelegt wurden, um musikalische Einträge beispielsweise von Verwandten und Freundinnen, Lehrern, Vorbildern und anderen Bekanntschaften zu sammeln. Ein enges persönliches Verhältnis zu den Einträgerinnen und Einträgern war dabei keine Voraussetzung. Musikalische Geselligkeiten und Kränzchen boten beste Gelegenheiten, um Kontakte zu knüpfen und Einträge zu sammeln. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass auch die gemeinsame Durchsicht des Albums des Gastgebers oder der Gastgeberin eine beliebte Beschäftigung bei Zusammenkünften in bürgerlichen Häusern war, und auch gemeinsames Musizieren aus Alben ist belegt. Einträge in solchen Alben – so persönlich sie im Einzelfall auch anmuten mögen – sind also nicht als rein private Angelegenheit zwischen den Eintragenden und dem Besitzer oder der Besitzerin des Albums zu sehen. Noch stärker zeigt sich die Funktion des Albums als eines zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre vermittelnden Mediums dort, wo Albumhalter oder -halterinnen ihnen gewidmete Einträge in andere Alben übertragen oder Albumeinträge im Nachgang gedruckt werden.
Vorgestellt werden soll hier ein Album, das im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig aufbewahrt wird und im CSMC im Rahmen des Projekts „Creating Music Albums as Originals Made of Originals“ digitalisiert werden konnte. Das relativ großformatige, aber schmale Buch – es misst 25,5x34,5 cm (quer) und enthält nur 15 Blätter – gehörte der Leipzigerin Marie Pohlenz, Tochter des Gewandhauskapellmeisters Christian August Pohlenz. Über die Albumhalterin ist nur wenig bekannt: 1848 wurde sie am Leipziger Konservatorium als Schülerin aufgenommen, im September 1850 und Mai 1851 ist ihre Teilnahme an den öffentlichen Prüfungen des Konservatoriums im Chorgesang und Klavierspiel belegt. In späteren Jahren soll sie in Leipzig als Lehrerin tätig gewesen sein.
Auch der Inhalt des Albums weist auf das Umfeld des Leipziger Konservatoriums hin: Insgesamt wurden 17 Eintrage in das Album notiert, die in der untenstehenden Tabelle verzeichnet sind. Der früheste datierte Eintrag stammt von dem Komponisten Niels W. Gade und wurde im Sommer 1850 verfasst, als Gade sich in Leipzig aufhielt, um der Uraufführung von Robert Schumanns Genoveva beizuwohnen, der letzte datierte Eintrag wurde von dem Berliner Dirigenten und Komponisten Wilhelm Taubert im Herbst 1853 eingetragen. Fast alle Einträge sind in Leipzig erfolgt. Viele der zur Studienzeit Pohlenz’ aktiven Lehrer des Konservatoriums – allesamt wichtige Persönlichkeiten auch des öffentlichen Leipziger Musiklebens und zum großen Teil weit über Leipzig hinaus bekannt – haben sich in das Album eingeschrieben. Sie alle seien hier, mit ihrer beruflichen Expertise und den zur Zeit des Eintrags bekleideten Funktionen, genannt: Ignaz Moscheles, Pianist, Komponist und Dirigent, war am Konservatorium Leiter der Klavierklasse; Moritz Hauptmann, Musiktheoretiker und Komponist, war Thomaskantor und Lehrer für Musiktheorie und Komposition; Julius Rietz, Cellist und Komponist, war Kapellmeister des Leipziger Stadttheaters, Dirigent der Singakademie und musikalischer Leiter der Gewandhauskonzerte, am Konservatorium lehrte er zudem Komposition; der Musiktheoretiker und Komponist Ernst Friedrich Richter war Organist der Peterskirche und schon seit 1843 ordentlicher Lehrer für Harmonielehre und Kontrapunkt; der Musikpädagoge Ernst Ferdinand Wenzel unterrichtete Klavier; der Geiger und Komponist Ferdinand David war Konzertmeister am Gewandhausorchester und lehrte am Konservatorium Violine; Raimund Dreyschock und der noch sehr junge Joseph Joachim waren an beiden Institutionen seine direkten Kollegen.
Mit Andreas Grabau trug sich ein weiterer Gewandhausmusiker ein, daneben findet sich ein Eintrag des Sängers und Schauspielers Heinrich Behr. Ludvig Norman und Robert Radecke hingegen waren Mitschüler Pohlenz’ am Konservatorium. Warum Marie Pohlenz nur diese beiden um einen Eintrag gebeten hat, ist nicht klar. Einträge aus dem familiären Umfeld der Albumhalterin beschränken sich auf die Einträge ihrer zwei Brüder Emil und Paul. Nur die Einträge Tauberts sowie des Musikpädagogen und Komponisten Gustav Wilhelm Teschner lassen sich nicht auf das Leipziger Umfeld der Albumhalterin zurückführen: Taubert war Kapellmeister am Königlichen Schauspielhaus in Berlin, Teschner arbeitete in Berlin als Gesangslehrer.
Das Album der Marie Pohlenz
Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Einträge auch im Hinblick darauf verfasst wurde, dass Pohlenz sie aus dem Album musizieren kann. Dafür spricht zum einen die verhältnismäßig große Anzahl vollständiger Kompositionen oder zumindest in sich geschlossener Ausschnitte aus Kompositionen. Zum anderen ist auffällig, dass vor allem Kompositionen für Klavier und Lieder eingetragen wurden – das entspricht den Fähigkeiten Pohlenz’, wie die Programme der Konservatoriumsprüfungen, die sie abgelegt hat, belegen: 1850 ist sie in der Chorgesangsprüfung als Solistin aufgetreten, 1851 hat sie Moscheles’ Hommage à Händel für zwei Klaviere mit aufgeführt. Nur für den Eintrag des Mitschülers Radecke, der den ersten Teil eines seiner – zum Zeitpunkt des Eintrags noch unveröffentlichten – Stücke für Pianoforte und Violine notiert hat, wird Pohlenz einen Musizierpartner gebraucht haben, wenngleich auch die Lieder mit Klavierbegleitung besser zu zweit ausführbar sind. Dem Wunsch, die Komposition für die Albumhalterin spielbar zu machen, könnte auch das Arrangement für Klavier entsprungen sein, das David von seiner eigenen Komposition, für das Album angefertigt hat. Er notiert für Pohlenz das „Kinderlied“ aus der Bunten Reihe für Violine und Klavier, und eine ganze Reihe an Korrekturen verrät, dass die Umarbeitung wohl spontan vorgenommen wurde. Bemerkenswert ist, dass zum Zeitpunkt des Eintrags Franz Liszts Bearbeitung des Stückes für Klavier bereits erschienen war, David für den Eintrag aber nicht auf sie zurückgreift.
Von den insgesamt 13 musikalischen Einträgen in dem Album sind neun vollständige Kompositionen oder umfassen zumindest in sich geschlossene musikalische Teile, sind also sinnvoll aus dem Album spielbar. Sollte die Albumhalterin sie im privaten Umfeld gespielt haben, dann mutmaßlich nicht ausschließlich für sich alleine, sondern auch bei Musikgeselligkeiten – womit eine gewisse, wenngleich in der Regel lokal beschränkte, Öffentlichkeit hergestellt wurde. Ein Teil der Kompositionen liegt aber auch im Druck vor oder kann in anderen Alben der Zeit nachgewiesen werden, wodurch die Komposition – wenngleich vielleicht nicht bis ins letzte Detail in der in Pohlenz’ Album zu findenden Variante und nur notenschriftlich, nicht in der Interpretation durch den Einträger oder die Albenhalterin – ein Publikum über den Kreis um die Albenhalterin hinaus gefunden haben. Mit Ausnahme eines von Heinrich Behr eingetragenen Lieds Felix Mendelssohn Bartholdys (op. 47,4 „Es ist bestimmt in Gottes Rath“) sind heute alle der eingetragenen Kompositionen weitgehend vergessen.
Mit der Veröffentlichung der Bilder des Albums lädt das CSMC Sie dazu ein, die private Musizierpraxis des 19. Jahrhunderts an einem Beispiel zu erkunden, sich das Album anzueignen und die Stücke spielend zu entdecken. Zu diesem Zweck stellen wir, zusätzlich zum Digitalisat des Manuskripts, auch Transkriptionen der in sich geschlossenen Einträge zum Download zur Verfügung. Wir freuen uns, wenn Sie ihre Interpretationen als Ton- oder Videomitschnitt festhalten und uns über das Kontaktformular per Downloadlink zusenden. Sofern Sie dem zustimmen, wollen wir diese, mit den entsprechenden Seiten des Digitalisats verknüpft, ebenfalls auf der Website veröffentlichen.