Vom „Rückzug ins Private“ ist seit den pandemiebedingten Einschränkungen, die mit einem weitgehenden Herunterfahren des öffentlichen Lebens einhergehen, vermehrt die Rede. Der Musikbereich wurde – wie der Kulturbereich insgesamt – von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hart getroffen: durch geschlossene Konzertsäle und Opernhäuser ebenso wie durch abgesagte Festivals waren Auftritte im öffentlichen Bereich kaum noch möglich. Musikerinnen und Musiker waren somit auf das häusliche Umfeld beschränkt, musizieren konnten sie nur noch im Privaten und in (sehr) kleiner Besetzung. Schon im März letzten Jahres begannen die ersten von ihnen, zu Hause Konzerte zu spielen und diese zu streamen. Inzwischen kann dieser neue Aufführungstyp, häufig „Wohnzimmer-“ oder „Hauskonzert“ genannt, als etabliert gelten. Nicht nur haben einzelne Interpretinnen und Interpreten wie beispielsweise Igor Levit und Daniel Hope so regelmäßig Musik aus ihrem Wohnzimmer in die Wohnzimmer der Zuhörerinnen und Zuhörer gebracht – auch Institutionen wie die Wiener Symphoniker oder radioeins haben mit ihren Wohnzimmerkonzert-Reihen ein Podium für kleine Ensembles und Bands geschaffen. Das Schleswig-Holstein Musik Festival hat sogar musikalische Hausbesuche organisiert.
Dass sich ein großer Teil des Musiklebens im privaten Bereich abspielt, ist dabei kein neues Phänomen. Für das 19. Jahrhundert kann angenommen werden, dass der musikalische Erfahrungshorizont des Bürgertums entscheidend geprägt war durch diese Musikpraxis im Privaten, trotz der ebenfalls zahlreich stattfindenden öffentlichen Konzerte und Opernaufführungen. Professionelle Musikerinnen und Musiker, Komponisten und Laien trafen sich in Bürgerhäusern, um gemeinschaftlich zu musizieren. Die Bandbreite der Erscheinungsformen dieser privaten Musizierpraxis ist dabei groß, sie umfasst beispielsweise Aufführungen ganzer Opern durch Liebhaberinnen und Liebhaber ebenso wie Abende mit vierhändigem Klavierspiel. Gleichzeitig boten private Kennerkreise Komponisten wie Interpreten und Interpretinnen einen geschützten Raum, in dem anspruchsvollere Kompositionen erprobt und diskutiert werden konnten.
Musikalben und das Musizieren im Privaten
Musikalben sind eng mit diesem Bereich der privaten Musikausübung verknüpft. Es handelt sich dabei um Manuskripte, die von ihren Besitzerinnen und Besitzern angelegt wurden, um musikalische Einträge beispielsweise von Verwandten und Freundinnen, Lehrern, Vorbildern und anderen Bekanntschaften zu sammeln. Ein enges persönliches Verhältnis zu den Einträgerinnen und Einträgern war dabei keine Voraussetzung. Musikalische Geselligkeiten und Kränzchen boten beste Gelegenheiten, um Kontakte zu knüpfen und Einträge zu sammeln. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass auch die gemeinsame Durchsicht des Albums des Gastgebers oder der Gastgeberin eine beliebte Beschäftigung bei Zusammenkünften in bürgerlichen Häusern war, und auch gemeinsames Musizieren aus Alben ist belegt. Einträge in solchen Alben – so persönlich sie im Einzelfall auch anmuten mögen – sind also nicht als rein private Angelegenheit zwischen den Eintragenden und dem Besitzer oder der Besitzerin des Albums zu sehen. Noch stärker zeigt sich die Funktion des Albums als eines zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre vermittelnden Mediums dort, wo Albumhalter oder -halterinnen ihnen gewidmete Einträge in andere Alben übertragen oder Albumeinträge im Nachgang gedruckt werden.
Vorgestellt werden soll hier ein Album, das im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig aufbewahrt wird und im CSMC im Rahmen des Projekts „Creating Music Albums as Originals Made of Originals“ digitalisiert werden konnte. Das relativ großformatige, aber schmale Buch – es misst 25,5x34,5 cm (quer) und enthält nur 15 Blätter – gehörte der Leipzigerin Marie Pohlenz, Tochter des Gewandhauskapellmeisters Christian August Pohlenz. Über die Albumhalterin ist nur wenig bekannt: 1848 wurde sie am Leipziger Konservatorium als Schülerin aufgenommen, im September 1850 und Mai 1851 ist ihre Teilnahme an den öffentlichen Prüfungen des Konservatoriums im Chorgesang und Klavierspiel belegt. In späteren Jahren soll sie in Leipzig als Lehrerin tätig gewesen sein.