Interviews zum ENCI-Projekt, Teil 2: Röntgenphysik„Die Herausforderung ist, Leichtbauweise und Strahlenschutz zu verbinden“
25. Januar 2024
Ein mobiler CT-Scanner für versiegelte Keilschrifttafeln – ENCI ist ein weltweit einmaliges Gerät. In diesem Interview erklärt Röntgenphysiker Christian Schroer, was die Konstruktion von ENCI so schwierig machte und an welchen Punkten vor dem Einsatz im Louvre noch gefeilt wird.
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Christian Schroer, es passiert nicht oft, dass ein Röntgenphysiker mit einer Assyriologin zusammenarbeitet. Wie ist es dazu gekommen?
Während einer Klausurtagung haben Cécile Michel und ich uns einmal länger beim Abendessen unterhalten. Sie erzählte mir von den versiegelten Keilschrifttafeln, die sie und ihre Kollegen nicht lesen können, und wir stellten schnell fest, dass die Röntgentomographie zur Lösung dieses Problems bestens geeignet ist. Man braucht allerdings ein mobiles Gerät, denn die Archive und Museen geben ihre Sammlungen nicht aus der Hand. Meine Kollegen und ich hatten früher schon einen Technologiedemonstrator für die Europäische Weltraumorganisation ESA gebaut, der ebenfalls sehr kompakt sein musste. Wir hatten also schon eine gewisse Expertise in diesem Bereich. Darauf baute unser Projekt auf.
Herausgekommen ist das erste mobile Gerät der Welt, mit dem versiegelte Keilschrifttafeln gelesen werden können. Welche technischen Herausforderungen galt es auf dem Weg dahin zu meistern?
Von der Röntgenphysik her ist das, was wir gebaut haben, schon vielfach erprobt. Wir hatten also nie Zweifel, dass die Technik an sich funktioniert. Die Herausforderung bestand darin, Leichtbauweise und Strahlenschutz zusammenzubringen, also in erster Linie eine engineering challenge. Wir operieren mit sehr harter Strahlung, man muss ja gewissermaßen durch einen Ziegel hindurch. Gleichzeitig wollen wir natürlich nicht, dass die Strahlung austritt. Das klingt erstmal nach einem Widerspruch: Man will durch Wände blicken, aber die Strahlung soll im Raum bleiben. Dafür braucht es einen sehr wirksamen Strahlenschutz aus Wolfram, ein sehr schweres Metall. Vergleichbare Geräte wiegen mehrere Tonnen. Indem wir den Raum für die Strahlung so kompakt wie möglich gemacht und damit die abzuschirmende Oberfläche minimiert haben, konnten wir das Gewicht von ENCI auf knapp über 400 Kilogramm drücken.
Wie können Sie mit ENCI ins Innere der Umschläge schauen, in denen sich die Keilschrifttafeln befinden?
Durch die Tomographie erhalten wir zunächst einen riesigen Datensatz aus rund 12 Milliarden Volumenpixeln, sogenannten Voxeln. Weil Umschlag und Keilschrifttafel aus demselben Material bestehen, nämlich Ton, muss dann jedes einzelne Voxel anhand seines Grauwerts einer von zwei Kategorien zugeordnet werden: entweder „Da ist Ton“ oder „Da ist kein Ton“. Auf diese Weise können wir die Grenzflächen bestimmen, und weil die Keilschrift in den Ton eingeritzt wurde, zeigt uns das dann, wo auf der Oberfläche der Tafel sich Schriftzeichen befinden.
Die Zuordnung der Voxel erfolgt natürlich nicht per Hand, dafür sogt ein Algorithmus. Den zu optimieren ist die Kunst unserer Kollegen in der Informatik, mit denen wir in diesem Projekt zusammenarbeiten. Unser Verfahren funktioniert schon sehr gut, nur punktuell müssen wir noch an einigen Stellen nachträglich eingreifen und etwas korrigieren.
Sie haben ENCI zunächst an Replicas von Keilschrifttafeln getestet, im Dezember 2023 folgten dann die ersten Versuche mit echten antiken Keilschrifttafeln. Gab es dabei wichtige Unterschiede?
Ja, durch die ersten Tests mit echten Objekten haben sich noch einmal einige neue Erkenntnisse ergeben. Die Replicas, die wir verwendet hatten, sind aus Ton aus dem Bastelladen, der ist wunderbar homogen. Bei den echten Tafeln gibt es viel mehr Unregelmäßigkeiten, da sind Löcher, kleine Einschlüsse, organische Überreste von Pflanzen und so weiter. Wir konnten außerdem feststellen, dass kleine Teile von Keilschrifttafeln abgebrochen sind und jetzt im hohlen Zwischenraum liegen. Das macht das Gesamtbild deutlich unübersichtlicher und für den Algorithmus schwieriger. Wir hatten Fälle, in denen er Schriftzüge freischwebend in der Luft „entdeckt“ hat, an diesen Stellen müssen wir dann manuell aufräumen. Perspektivisch wollen wir es aber natürlich automatisiert hinbekommen.
Sind diese Abweichungen so groß, dass Assyriologen die Texte auf den Tafeln nicht lesen können?
Nein, lesen kann man das jetzt schon, es sieht nur nicht so schön aus. Wenn wir zum Beispiel einen 3D-Druck von der Tafel anfertigen wollen, wären einige Stellen noch nicht originalgetreu. Wir haben den Anspruch, alle Details korrekt und in hoher Auflösung abzubilden. Daran arbeiten wir jetzt noch.
ENCI wurde für die Untersuchung von Keilschrifttafeln gebaut – können Sie das Gerät auch für andere Objekte verwenden?
Grundsätzlich eignet sich ENCI für Experimente mit diversen Materialien. Die Objekte dürfen nur nicht zu groß sein oder zu stark absorbieren. Sehr dicke metallische Objekte, zum Beispiel eine Bronzevase, können wir uns damit nicht anschauen. Aber organische Materialien aller Art sind kein Problem, beispielsweise Papier oder Palmblattmanuskripte. Es gibt also noch andere Arten von Schriftartefakten, die wir mit ENCI untersuchen können.