„Wenn das klappt, ist das für mich wie der Gewinn einer Goldmedaille“Interview mit Giovanni Ciotti
19. Mai 2022
Die Palmblattmanuskripte von Pondicherry gehören zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Doch die Herkunft vieler Exemplare ist unbekannt. Giovanni Ciotti, Leiter der „Palm-Leaf Manuscript Profiling Initiative“, will im neuen Containerlabor ihre Geschichten ergründen.
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Giovanni Ciotti, Ende des Jahres geht das neue Containerlabor der Universität Hamburg auf seine erste Reise nach Indien. Finanziell, logistisch und wissenschaftlich ist das ein gewaltiger Aufwand. Was für Schätze liegen in Pondicherry, die diesen Aufwand rechtfertigen?
Dort lagern rund 12.000 Palmblattmanuskripte, von religiösen Abhandlungen über Gedichte bis zu Tanzanleitungen. Die meisten davon stammen aus dem 19. Jahrhundert, eine wenige reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Geschrieben sind sie in zwei altindischen Sprachen: Tamil und Sanskrit. Für unser Verständnis der tamilischen Kultur, Religion und Wissenschaften sind diese Manuskripte von herausragender Bedeutung. Das Problem ist jedoch: Wir wissen sehr wenig über ihre Herkunft. Es gibt kaum Aufzeichnungen darüber, woher sie kommen und wer sie geschrieben hat. Dies zu wissen ist aber entscheidend, wenn wir nachvollziehen wollen, wie sich zum Beispiel bestimmte religiöse Kulte ausgebreitet haben.
Wie kann man hunderte Jahre nach der Entstehung herausfinden, woher ein bestimmtes Manuskript kommt?
Schrift und Sprache verraten uns, dass die Manuskripte aus der Gegend im Südosten des Landes stammen, aus dem heutigen Bundesstaat Tamil Nadu. Um den Herkunftsort weiter einzugrenzen, gibt es verschiedene Ansätze. Zum einen können wir uns die sogenannten paläografischen Eigenschaften des Manuskripts anschauen, also zum Beispiel die Buchstabenformen. Im Containerlabor können wir aber auch die physischen Eigenschaften untersuchen. Wenn sich dabei bestimmte Muster zeigen – zum Beispiel beim Ruß, der zum Schreiben verwendet wurde, oder wenn die Palmblätter dieselbe DNA-Struktur haben – dann können wir ziemlich sicher sein, dass sie vom selben Ort stammen.
Vom selben Ort – aber wo der sich wiederum befindet, wissen Sie dann doch immer noch nicht.
Zum Glück gibt es einige wenige Manuskripte, über die wir diese Informationen besitzen. Während der letzten zehn Jahre habe ich mit einem Kollegen eine Datenbank aufgebaut, in der wir all diese Manuskripte verzeichnen. Darin sind inzwischen rund 900, von denen die meisten in Pondicherry lagern. Wenn wir die physischen Eigenschaften dieser Manuskripte bestimmen, haben wir einen Ansatzpunkt. Dann können wir die Ergebnisse mit den Eigenschaften anderer Manuskripte abgleichen und so Rückschlüsse über deren Herkunft ziehen. Das ist die Kernidee unserer Arbeit in Pondicherry.
Diese Mission hat mehrere Dimensionen, die unabhängig voneinander gelingen oder misslingen können.
Ist es vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte Indiens nicht problematisch, wenn Europäer mit ihrer teuren Technik anrücken und den Menschen in Tamil Nadu die Erforschung ihrer eigenen Manuskripte abnehmen?
Natürlich ist das heikel. Aber die Idee dieser Reise ist ausdrücklich nicht, dass wir uns in unseren Containern abschotten, forschen und wieder nach Hause fahren. Das Containerlabor ist ein Werkzeug für Wissenstransfer. Wir wollen mit lokalen Institutionen zusammenarbeiten und möglichst vielen Studierenden die Möglichkeit geben, den Umgang mit unseren Instrumenten zu erlernen. Das ist in unserem eigenen Interesse. Je mehr kompetente Leute wir vor Ort haben, desto besser werden wir mit der Erforschung dieser Berge an Manuskripten vorankommen. Mit dem Containerlabor werden wir zehn Monate vor Ort sein und in dieser Zeit bestenfalls 400 Manuskripte analysieren können. Es wartet also noch eine Menge Arbeit.
Fangen Sie bei null an, oder gibt es bereits Forschungsarbeiten, auf die Sie aufbauen können?
Was die materielle Analyse der Manuskripte in Pondicherry angeht, fangen wir tatsächlich bei null an. Deswegen müssen wir, bevor wir dorthin reisen, erst eine Reihe von Verfahren testen. Welche Geräte wir mitnehmen, hängt davon ab, welche Methoden sich hier als erfolgsversprechend erweisen. Eine große Herausforderung besteht darin, dass nur nicht-invasive Methoden in Frage kommen. Diese Manuskriptsammlungen gehören zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Da können Sie, salopp gesagt, nicht einfach ein Stückchen abschneiden und unters Mikroskop legen. Gerade testen wir ein Verfahren, bei dem wir eine Art Abstrich von den Palmblättern machen und dabei gerade genug Material aufnehmen, um eine DNA-Analyse durchführen zu können. Bisher funktioniert das noch nicht zuverlässig. Ich hoffe aber, wir kriegen das noch rechtzeitig hin.

Blicken wir einmal voraus auf den Oktober 2023. Was müssen Sie bis dahin erreicht haben, damit Sie diese Mission als Erfolg werten können?
Das ist schwer zu beantworten, weil diese Mission mehrere Dimensionen hat, die unabhängig voneinander gelingen oder misslingen können. Da sind zunächst die Container selbst. Wenn die sich im Feld bewähren und wenn es sich als machbar herausstellt, sie über die Weltmeere zu schippern, ohne dass einer ins Wasser fällt oder zwei Jahre im Zoll stecken bleibt, wäre das ein großer Erfolg. Dann ist da der Aspekt des Wissenstransfers, den ich angesprochen habe. Es wäre toll, wenn wir einige Kollegen vor Ort überzeugen können, wie viel sich für die Geisteswissenschaften gewinnen lässt, wenn man naturwissenschaftliche Methoden für ihre Zwecke einsetzt. Beim Zusammenwirken dieser Disziplinen ist noch viel Luft nach oben – natürlich nicht nur in Indien. Und nicht zuletzt geht es um die Forschung an den Manuskripten selbst. Wenn wir zeigen können, dass Manuskripte, die vom selben Ort stammen, bestimmte physische Gemeinsamkeiten haben, sodass wir die Herkunft bisher nicht lokalisierbarer Manuskripte rekonstruieren können, wäre das ein riesiger Fortschritt. Bisher weiß niemand, ob das klappt, und ich habe einige Kollegen, die diesen Ansatz bezweifeln. Falls es funktioniert, wäre das für mich vergleichbar mit dem Gewinn einer olympischen Goldmedaille.
Giovanni Ciotti
ist seit 2013 CSMC-Mitglied. Derzeit ist er Principal Investigator von zwei Projekten am Exzellenzcluster: 'Towards a Comprehensive Approach to the Study of South Indian Palm-Leaf Manuscripts' und 'Palm-Leaf Manuscript Profiling Initiative (PLMPI)'.