„Wenn der Text zurückkommt, gibt es diesen ehrfurchtsvollen Moment“Interview mit Kyle Ann Huskin
14. Januar 2022
Im Nachlass eines früheren Mitarbeiters des Stadtmuseums Harburg tauchen im Frühjahr 2021 einige ungewöhnliche Dokumente auf: Fragmente einer Tora, geraubt in der Reichspogromnacht. Darauf die Überreste einer Handschrift. Kyle Ann Huskin erklärt, wie sie und ihre Kollegen am CSMC ein rätselhaftes Stück Harburger Geschichte rekonstruierten.
Tora-Fragment aus dem Harburg-Projekt – nach der Rekonstruktion der entfernten Schrift
Da ist noch etwas. Auf den Fragmenten der Tora-Rollen, die ein Mitarbeiter des Stadtmuseums Harburg Anfang 2021 im Nachlass seines Vaters findet, sind bei näherem Hinsehen Überreste einer Handschrift zu erkennen. Die Worte sind aber nicht mehr zu entziffern. Der Vater, einst Mitglied der Hitler-Jugend, war dabei, als in der Nacht des 9. November 1938 ein Mob die Synagoge in Harburg stürmte und anschließend die religiösen Artefakte, darunter auch die Tora-Rollen, auf dem Marktplatz in Brand setzte. Doch Teile der Rollen waren offenbar nicht für die Flammen bestimmt. Stattdessen wurden sie beschmiert – mit Nazi-Parolen und zeitgenössischer Propaganda. Drei solcher Zeugnisse der Reichspogromnacht bewahrte der frühere Museumsmitarbeiter bis zu seinem Tod in einer Mappe mit persönlichen Unterlagen. Das Bemerkenswerte daran: Später hat jemand, womöglich der Mann selbst, offenbar versucht, die NS-Parolen auf den Tora-Fragmenten wieder zu entfernen. Dabei gelang es, unkenntlich zu machen, was, nicht aber dass etwas darauf geschrieben worden war.
Mit diesen ungewöhnlichen Dokumenten wendet sich das Stadtmuseum Harburg im Frühjahr an das CSMC. Das Ziel: die entfernte Handschrift wieder sichtbar machen. Tatsächlich kann das fünfköpfige Team, das sich am Centre an die Arbeit macht, das Geschriebene bald rekonstruieren. Für die Historiker*innen des Stadtmuseums ist es eine profunde Entdeckung, ist es doch das erste Mal, dass derartige Hassbotschaften auf Tora-Rollen nachgewiesen werden können. Jens Brauer, Leiter der Abteilung Stadtgeschichte des Museums, hält die drei Tora-Fragmente gar für den wichtigsten Bestandteil der Ausstellung "Orte jüdischen Lebens in Harburg", die noch bis zum 13. Februar 2022 zu sehen ist.
Wie ist es möglich, eine sorgfältig entfernte Handschrift nach Jahrzehnten wieder sichtbar zu machen? Darüber haben wir mit Kyle Ann Huskin gesprochen, die im CSMC-Labor für multispektrale Bilderfassung zuständig ist und an der Rekonstruktion der NS-Parolen beteiligt war.
Kyle Ann Huskin, Nazi-Botschaften auf geraubten Tora-Rollen zu rekonstruieren ist ein ungewöhnlicher Auftrag. Wie kam es überhaupt dazu?
Nachdem ein Mitarbeiter des Stadtmuseums Harburg die Fragmente im Nachlass seines Vaters gefunden und dem Museum übergeben hatte, wandte man sich dort zunächst an ein forensisches Labor. Dort wurde versucht, den entfernten Text mit ein oder zwei Lichtwellenlängen wieder sichtbar zu machen, doch das gelang nicht. Deswegen kam das Museum dann auf uns zu.
In welchem Zustand waren die drei Fragmente, die Sie dann zu sehen bekamen? Konnte man mit bloßem Auge erkennen, dass darauf einmal etwas geschrieben stand und dann wieder entfernt worden war?
Auf der Rückseite des größten Stückes war eine Fläche, auf der jemand etwas abgeschabt hatte. Auf den zwei kleineren Stücken waren noch Ansätze von Buchstaben zu erkennen, doch auch die waren von jemandem entfernt worden. Es war klar, dass dort mal etwas gestanden hatte. Wir wollten wissen, was.
Wie genau sind Sie vorgegangen?
Zunächst muss das Objekt liegen. Eines der Fragmente war jahrzehntelang gefaltet, davor war es auf einer Rolle – es ist mühselig, so etwas flach hinzulegen. Und es darf sich natürlich nichts bewegen, solange wir die Bilder machen. Wir mussten es also gut fixieren, ohne es dabei zu beschädigen. Dann haben wir eine Röntgenfluoreszenzanalyse, durchgeführt, um ein besseres Verständnis des Materials zu bekommen. Das dauert ungefähr einen Tag. Einen weiteren Tag brauchten wir dann für die multispektrale Bilderfassung. Der eigentliche Prozess geht schneller, aber es kostet Zeit, das System richtig einzustellen, sodass es auf das jeweilige Objekt passt. Die Bildverarbeitung nimmt dann noch einmal eineinhalb Tage in Anspruch.
Auf beiden Seiten, etwa 1,5 Meter vom Tisch entfernt, auf dem das Objekt liegt, haben wir große Ständer mit drei verschiedenen Lampen. Die oberen Lichter strahlen jeweils eine Wellenlänge aus, vom sichtbaren Spektrum (blau, cyan, rot und so weiter) bis hin zum Infrarotbereich. Diese Bilder geben uns wertvolle Informationen über die Art der Tinte auf dem Objekt, da jedes Material spezifische spektrale Eigenschaften hat.
Ein wenig weiter unten befinden sich die Lampen für ultraviolettes Licht. Diese verwenden wir mit einem Filterrad – einem Satz von sechs Wratten-Filtern, von denen jeder eine andere Wellenlänge des Lichts blockiert –, das zwischen dem Objektiv und dem Objekt sitzt und sich zwischen den Aufnahmen dreht. Wir machen das, weil Pergament fluoresziert: Es gibt Licht mit einer höheren Wellenlänge wieder ab. Tinte oder Bleistift, die auf der Oberfläche verbleiben, unterdrücken die Fluoreszenz und machen so den Text sichtbar. Dieses Phänomen ist vergleichbar mit dem, was man in einem Club sehen kann, wenn ein weißes Hemd unter einer schwarzen UV-Lampe blau zu leuchten scheint. Aufgrund dieser optischen Eigenschaften sind die Fluoreszenzbilder in der Regel am nützlichsten, um gelöschten oder beschädigten Text zu rekonstruieren.
Noch weiter unten haben wir Aufheller, die in einem Winkel von 10 bis 15 Grad zum Objekt angebracht sind. Mit diesen Lichtern erfassen wir die Oberflächentextur, die uns helfen kann, die Beschädigung und in einigen Fällen auch die durch den Schreibvorgang entstandenen Buchstabeneindrücke sichtbar zu machen. Wir legen die Höhe, Intensität und Dauer der Beleuchtung für jedes einzelne Objekt fest, je nachdem, wie groß es ist und wie hell es fluoresziert.
Ein Trail-and-Error-Prozess?
Wir haben natürlich gespeicherte Voreinstellungen für Pergamente, die zum Beispiel in etwa so alt oder in etwa so hell sind. Aber die Feinjustierung läuft per Hand. Ein Histogramm zeigt uns dabei, wie viel Licht auf das Objekt trifft.
Warum die Person die Schrift entfernt, die Fragmente aber behalten hat, gibt uns Rätsel auf.
Und der Lohn für die Mühe ist am Ende die wieder sichtbare Schrift?
Wenn alles glatt läuft! Am Ende haben wir 50 verschiedene Schwarzweißbilder, jedes davon in einer anderen Wellenlänge und mit einem anderen Filter. Daraus bauen wir einen sogenannten „Bilderwürfel“, indem wir sie übereinanderstapeln, sodass alle Pixel ausgerichtet sind und wir zum Beispiel Informationen darüber bekommen, welche Pixel Pergament zeigen und welche Text. Mit verschiedenen Algorithmen können wir dann den Kontrast zwischen Text und Pergament erhöhen. Man muss lange herumprobieren, um herauszukriegen, welche Stellen sich am besten eigenen, um Text sichtbar zu machen.
Also ist das finale Bild in Wahrheit eine Zusammensetzung aus vielen Einzelbildern…
…die wir mit Computerprogrammen bearbeitet und dann in verschiedene Rot-, Grün- und Blaubänder eingespeist haben. Deswegen haben die finalen Bilder lauter verrückte Farben, die überhaupt nicht mehr nach dem Original aussehen. Wissenschaftler mögen das nicht so gerne, aber wir müssen damit arbeiten.
Wie leicht lässt sich die Schrift dann lesen? Wahrscheinlich bedarf sie noch immer einiger Vervollständigung und Interpretation.
Das hängt davon ab. Einige Materialen hinterlassen auf Pergament deutlichere Spuren als andere. Auf den beiden kleineren Fragmenten sieht es so aus, als hätte sie jemand mit Bleistift beschrieben. Bleistifte sind kohlenstoffbasiert, und Kohlenstoff sitzt recht locker auf der Oberfläche. Wenn man das entfernt, bleibt nicht viel nach, also war dieser Text besonders schwer zu rekonstruieren. Auf dem größeren Fragment wurde aber Tinte verwendet, und die hinterlässt Spuren im Pergament. Sogar, wenn man sie nicht sehen kann, weil sie abgeschabt wurde, ist sie immer noch da und reagiert auf unser Licht. Am Ende war fast der gesamten Text wieder gut lesbar – vorausgesetzt, man hat keine Mühe mit Sütterlin…
Können Sie etwas darüber sagen, was mit den Pergamenten angestellt wurde, die Schrift zu entfernen?
Zumindest im Falle des großen Fragments sieht es so aus, als hätte es jemand mit einem Messer bearbeitet, denn wenn man es von unten beleuchtet, sieht man die Stellen, an denen es dünner ist. Mehrere Schichten wurden entfernt. Auch bei den kleineren Fragmenten kamen womöglich Messer zum Einsatz.
Sieht aus, als hätte jemand nichts dem Zufall überlassen wollen.
Ja. Aber die Hintergründe kennen wir nicht. Warum die Person die Schrift entfernt, die Fragmente aber behalten hat, gibt uns Rätsel auf. Offenbar wollte sie etwas hinter sich lassen. Aber dann fragt sich, warum sie die Stücke nicht vernichtet oder zurückgegeben hat.
Wie erleben Sie das, wenn Worte wieder zum Vorschein kommen, die jahrzehntelang unsichtbar waren?
Wenn der Text zurückkommt, fühlt es sich jedes Mal wie ein Wunder an. Natürlich wissen wir – gerade wir! – dass es kein Wunder ist, sondern gründliche Arbeit. Aber manchmal, wenn der Text plötzlich wieder da ist, gibt es diesen ehrfurchtsvollen Moment: Da ist er wieder, und wir sind die ersten, die ihn nach so langer Zeit zu Gesicht bekommen. In diesem Fall lag noch ein besonderes Gewicht auf der ganzen Sache, denn dieser Text ist Zeugnis einer grauenhaften Geschichte. Es hat sich seltsam angefühlt, all diesen Aufwand zu betreiben, um ein Stück Nazi-Propaganda zu bergen. Normalerweise ist das etwas, das man lieber ausradiert lässt. Aber in diesem Fall war es wichtig, um etwas über den historischen Kontext zu erfahren.
Ist das der Kern Ihrer Arbeit: Technik verwenden, um Geschichte besser zu verstehen?
Genau. Oft wenden sich Wissenschaftlerinnen oder Bibliotheken an uns, und manchmal auch private Bürger, die zum Beispiel Familiendokumente lesen wollen. Im Moment haben wir für so etwas sogar Zeit, weil wir kaum Reisen unternehmen können, um an neues Material zu kommen. Also freuen wir uns, wenn das Material zu uns kommt. Für uns ist das interessant, weil wir es so mit vielen verschiedenen Tinten und Papieren zu tun bekommen. Das ist das Tolle an der multispektrale Bilderfassung: von Tora-Rollen über äthiopische Manuskripte bis hin zum mittelalterlichen Palimpsest: Jedes Objekt ist ein neues Abenteuer.