Nr. 71
Balletthandlungen, Tanzfiguren, Alchemie und Feuerwerke
Was mag wohl ein Tanzmeister, der in der zweiten Dekade des 17. Jahrhunderts in Brüssel unterrichtete und auftrat, alles in sein Notizbuch eingetragen haben? Nach einer Handschrift (Cod. Holm S 253) in der Kungliga Biblioteket, der Königlichen Bibliothek zu Stockholm, zu urteilen, sind die Antworten überraschend. Erwarten würde man sicherlich Handlungen von Balletten (Abb. 1), eine Liste von Balletttiteln oder auch Musik für zeitgenössische, modische Tänze; aber man käme wohl nicht auf Anleitungen zur Herstellung von Feuerwerkskörpern, zum Ausräuchern eines Hauses gegen die Pest, zum Anbau von Weizen auf kargem Boden, auf Heilmittel gegen Zahnweh und Epilepsie oder eine Rezeptur zur Herstellung eines Präparats zur Verschönerung des Teints. Was verrät uns eine solch diverse Sammlung über das Manuskript, seinen Besitzer, dessen Aktivitäten und Interessen?
Auch wenn uns der Name des Tanzmeisters und Besitzers der Handschrift nicht bekannt ist, zeigen sich sein Charakter und seine Interessen auf den Seiten des Notizbuchs. Die breite Palette von Rezepturen – medizinische, kosmetische und landwirtschaftliche – lässt auf einen Mann mit breitgefächerten Interessen schließen. Der systematische Kanon von Tanzfiguren hingegen deutet auf einen klaren Kopf hin, der Ordnung und Gestaltung in seiner Kunst schätzte, während seine ironischen Kommentare über die Liebenden in einem der Balletttitel seinen Sinn für Humor verraten. Aus dem Notizbuch ist zu erfahren, dass der Tanzmeister ein geschäftiger Unternehmer war und eine Tanz- und Musikschule in Brüssel leitete, in der ganzjährig Schüler aus unterschiedlichen Schichten und u.a. aus Dänemark, England, Deutschland und Frankreich unterrichtet wurden: Herren und Damen, Ritter und Barone, der adelige Haushofmeister von Prinz Karl Alexander von Lothringen. Eine der Eintragungen erwähnt die Prinzen „de la sau“, deren Identität uns allerdings nicht näher bekannt ist (Abb. 2).
Der persönliche Charakter des Manuskripts passt zu seinem kleinen Format – der Papiereinband ist nur 19,2 cm hoch und 14,5 cm breit – sowie zum minderwertigen Papier, dessen Zustand sich im Laufe der Zeit und durch den Gebrauch weiter verschlechtert hat. Einige Ränder sind abgenutzt oder abgerissen, und auf zahlreichen der 122 Blätter ist die Tinte stark durch das Papier geschlagen. Offensichtlich war das Notizbuch nie zur Veröffentlichung bestimmt. Während die Schrift auf einigen Blättern klar und lesbar ist, wirkt sie auf anderen gehetzt und unordentlich. Auf manchen Blättern finden sich durchgestrichene Zeilen, und stellenweise ist der Text grob in den verfügbaren Raum gequetscht. Ursprünglich war das Notizbuch ein Heft mit leeren Blättern (im Gegensatz zu einer erst später gebundenen Loseblattsammlung). Das zeigt sich u.a. daran, dass der Schreiber mehrmals zur letzten Notenzeile auf der Rückseite eines Blattes kam, bevor das Musikstück beendet war; der Rest des Stückes steht unten auf der Vorderseite des nächsten Blattes.
Die französischen Texte stammen von fünfzehn verschiedenen Händen, sechs individuelle Hände haben die Musik notiert. Wesentliche Teile des Manuskripts wie die Balletthandlungen, die Anleitungen zur Herstellung von Feuerwerkskörpern und die Anweisungen für eine Aufführung mit Pike lassen sieben klar unterscheidbare Hände erkennen. Somit hatten offenbar mehrere Personen Zugang zu dem Notizbuch und waren mit der Aufgabe betraut, die Lied- und Tanzmelodien aufzuzeichnen, die den Studenten beigebracht wurden. Vermutlich gehörte das Notizbuch einer Person, die aber auch anderen erlaubte, Materialien darin zu kopieren oder aufzuzeichnen. Die Hand, die im gesamten Manuskript zu finden ist, war wahrscheinlich die des Tanzmeisters selbst, des Besitzers des Manuskripts. Vermutlich bewahrte er das Notizbuch in seiner Schule auf, damit es für das gesamte Lehrpersonal zugänglich war. Auch scheint der Tanzmeister Sachverständige für Feuerwerkskörper und Stichwaffen gebeten zu haben, ihre Erläuterungen selbst in das Notizbuch zu schreiben. Abgesehen von der Handschrift des Tanzmeisters, dem das Manuskript gehörte, gehören die fünf anderen Hände, von denen die Noten stammen, wahrscheinlich Lehrern seiner Schule.
Eine der Besonderheiten dieser Handschrift ist, dass sie einen Kanon weit verbreiteter Tanzfiguren oder -Muster enthält, welche die Grundlage für choreographierte Tanzspektakel bilden, die im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert an den Höfen Frankreichs und Englands aufgeführt wurden. Angesichts der überwältigenden Variationsbreite der dokumentierten Tanzfiguren für fünf bis sechzehn Tänzer lässt sich die Verblüffung von Zeitgenossen nachvollziehen, wenn sie beschreiben, welch erstaunliche Vielfalt von Figuren sich während einer Tanzaufführung vor ihren Augen entfaltete. Im Manuskript tragen einige der Figuren Namen wie ceur (Herz), croi (Kreuz), solleille (Sonne), leunnes (Mond), estoille (Stern) und pome de pin (Tannenzapfen). Weitere Namen bezeichnen geometrische Figuren wie Raute, Quadrat oder Pyramide (Abb. 3), die man mit Wesen und Wirken des Kosmos und göttlicher Wahrheit assoziierte, während Figuren mit Namen wie „Salamander“ und „Schildkröte“ für gängige alchemistische Bilder stehen.
Eine Reihe von Anweisungen für den Soloauftritt eines Mannes mit Pike ist besonders wertvoll, da sie das einzige überlieferte Beispiel sind (Abb. 4). Sie weisen sowohl Merkmale choreographierten Tanzes als auch militärischen Exerzierens mit Piken auf und kombinieren damit auf beispiellose Art und Weise Kampf- und Tanzkunst in einem spektakulären Schauspiel, das Rhythmus, Balance und tänzerische Beherrschung körperlicher Bewegungsabläufe mit Kraft und Geschicklichkeit beim Umgang mit der langen, schweren Stichwaffe vereint. Die Anweisungen stammen entweder von einer früheren Aufführung oder dienten zur Vorbereitung einer zukünftigen. Militärische Vorführungen waren ebenso wie Feuerwerke Teil solcher öffentlicher Spektakel. Für einen Tanzmeister war es bei der Planung solcher Vorführungen sicherlich vorteilhaft, potenziellen Mäzenen einzelne Elemente zu Illustrationszwecken zeigen zu können.
Das ungewöhnliche Notizbuch berichtet nicht von den täglichen Aktivitäten seines Besitzers, des Tanzmeisters. Es enthält zwar Unterrichtsmaterialien, die er wohl auch tatsächlich verwendet hat, aber der Inhalt ist systematischer geordnet, als es bei tagebuchähnlicher Verwendung der Fall wäre. Wahrscheinlich erfüllte es mehrere Aufgaben. Es diente als Sammlung von Gesangs- und Instrumentalmusik, die seine Schüler lernen konnten. Die Stücke im Notizbuch wurden vom Tanzmeister aus aktuellen gedruckten Sammlungen ausgewählt, um den Wünschen seiner Schüler zu entsprechen, denen er die neuesten modischen Tänze und Lieder vom französischen Hof beibrachte. Zudem enthält das Manuskript eine Liste von etwa 120 Tanzschülern, die an der Schule unterrichtet wurden, mit Dutzenden von Schülerunterschriften, dem jeweiligen Datum ihrer ersten Unterrichtsstunde und allgemeinen Charakterisierungen der Tanzschüler wie z.B. „deutscher Baron“ (es war allerdings kein Rechnungsbuch für Zahlungseingänge). Ferner diente es als Nachschlagewerk, als Gedächtnisstütze für die vielen möglichen Tanzfiguren, die bei der Ausarbeitung eines entrées und des abschließenden grand ballet eines ballet de cour verwendet wurden – ein unentbehrliches Hilfsmittel für einen professionellen Tanzmeister, der sich mit theatralischen Tanzaufführungen beschäftigte. In Teilen fungierte das Notizbuch auch als eine Art curriculum vitae für seinen Besitzer, das beispielhaft dokumentierte, was er unterrichtete, und welche Schüler er gelehrt hatte, was er choreographieren und welche theatralischen Aufführungen, Ballette oder Maskenbälle er inszenieren konnte. Heutzutage würde man solch eine Zusammenstellung als „Handbuch eines Eventmanagers“ bezeichnen.
Das Notizbuch hatte auch noch eine häusliche Funktion: Es enthält eine Liste nützlicher Heilmittel zur Behandlung alltäglicher (und gelegentlicher) Erkrankungen, die eine Person zu dieser Zeit plagen konnten. Jahrhunderte vor „OK Google“ sammelten und dokumentierten die Menschen bereits Informationen, die entweder für den Alltag von Nutzen oder aber von persönlichem Interesse waren. Mittel gegen Zahnweh oder eine Rezeptur für Hautcreme, ganz zu schweigen vom Ausräuchern eines Hauses zur Pestbekämpfung, fallen in die erste Kategorie, während Anweisungen zum Weizenanbau auf kargem Boden – für Stadtbewohner kaum relevant – die vielfältigen, über choreographische und musikalische Belange hinausgehenden Interessen unseres anonymen Tanzmeisters belegen.
Literatur
- BRINSON, Peter (1966): Background to European Ballet: A Notebook From Its Archives. Leiden: Sijthoff.
- McGOWAN, Margaret M. (2008): Dance in the Renaissance: European Fashion, French Obsession. New Haven: Yale University Press.
- NEVILE, Jennifer (2018): Footprints of the Dance: An Early Seventeenth-Century Dance Master’s Notebook. Leiden: Brill.
- RAVELHOFER, Barbara (2011): „Choreography as Commonplace“. In: David J. Cowling und Mette B. Bruun (Hgg.): Commonplace Culture in Western Europe in the Early Modern Period: Reformation, Counter-Reformation and Revolt, Band 1. Leuven: Peters.
Beschreibung
Kungliga Biblioteket, Stockholm
Signatur: Cod. Holm S 253
Material: Papier, 122 Blatt
Maße: 14,5 cm (Breite) × 19,2 cm (Höhe)
Herkunft: Brüssel, ca. 1615–1619
Zitationshinweis
Jennifer Nevile, „Balletthandlungen, Tanzfiguren, Alchemie und Feuerwerke“
In: Wiebke Beyer, Zhenzhen Lu (Hg.): Manuscript des Monats 2017.11, SFB 950: Hamburg,
http://www.csmc.uni-hamburg.de/publications/mom/71-de.html
Text von Jennifer Nevile
© für alle Abbildungen: Cod. Holm S 253, Kungliga Biblioteket, Stockholm. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung der schwedischen Nationalbibliothek.